186
DIE
DECKENBILDER
IN
DER
SIXTINISCHEN
KAPELLE.
zufammenhängen mag, dafs die Einzelgeftalten allmählich von Gruppen
abgelöft werden. Den Anfang aber machte er an der Altarfeite. Diefer
zunächft fehen wir einen Mann mit läffig herabhängenden Armen und
gekreuzten Händen, der ftarr in die Weite blickt und die tieffle Stufe
der Troftlofigkeit verfinnlicht. Das Weib auf der linken Seite, welches
das eine iBein auf einen Schemel gefiellt und mit vorgebeugtem Leibe
in ein Buch blickt, und ihr Gegenbild in derfelben Lunette, der fitzende
Mann vor einem Lefepulte, der flch zurücklehnt und über das Gelefene
nachdenkt, führen fchon beffer in die Stimmung des Harrens und Er-
wartens ein, welche die Propheten und Sibyllen fo energifch vertreten.
Das zweite Lunettenpaar zeigt rechts einen alten bärtigen Pilger
oder raftenden Wanderer mit dem breitkrämpigen Hut im Nacken, auf
einen Stock gelehnt und eine anmuthige junge Mutter mit ihrem
Wickelkinde auf dem Schoofse. Diefen Gruppen entfprechen links ein
älterer Mann, der mit verfchränkten Armen geradeaus herausblickt,
mit einer kleineren Frauengeflalt zur Seite, welche eine Schale in
der Hand hält und das Gefxcht theilnehmend dem Hnfteren Gefährten
zuwendet, und die alte Garnwinderin, eine köftliche Figur aus dem
Volke, die Michelangelo auch im Skizzenbuche (mit veränderter Stellung)
verewigt hat.
Zwei Ruhende führt die folgende Abtheilung rechts vor: einen Mann,
im Schlafe fo ftark vorgebeugt, dafs der Kopf die Kniee, und der fchlafi
herabhängende Arm faft die Erde berührt, und eine Frau, welche auf
die Stuhllehne mit einem Arm leicht {ich aufftützt und den Kopf fanft
zur Seite neigt, wieder eine von den feltenen Frauengeftalten Michel-
angelds, in welcher maafsvolle Schönheit und gewinnende Anmuth ver-
körpert ift. Der Anflug von Schwermuth verleiht dem Frauenbilde einen
noch höheren Reiz. Diefen Figuren gegenüber malte der Künftler einen
eifrig mit Schreiben befchäftigten, in einen Mantel gehüllten mageren
Mann und eine Frauengruppe, die am meiften an eine Caritas erinnert.
An der Mutter klettert ein Knabe von rückwärts empor; er hat ihren
Rücken erklommen und will {ie umhalfen. Um ihn vor dem Falle zu
bewahren, greift die Mutter mit dem Arme nach hinten und halt ihn
feft, indem f1e zugleich Oberkörper und Kopf ihm zuwendet. Mit dem
anderen Arm umfafst fie einen zweiten, ihr zur Seite ftehenden, an ihr
Knie fxch fchmiegenden Knaben. Dem Schwunge der Linien, der Kühn-
heit der Bewegungen glaubt man die Freude Michelangelds anzufehen,
wieder einmal ein Motiv zu behandeln, welches alle plaPcifchen Künfte
herausforderte. Er mufste {ich in die florentiner Jahre zurückverfetzt
fühlen, in welchen er in die Madonnenbilder mit Hilfe plaftifcher Zuge