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DIE
DECKENBILDER
IN
DER
SIXTINISCHEN
KAPELLE.
Werth. Aufser der einen und der anderen Kategorie von Bildern und
Geftalten fchuf aber Michelangelo in der Sixtina noch eine dritte, welche
zwifchen jenen beiden gleichfam die Mitte hält. Die Gruppen in den
Bogenfeldern (Lunetten) der Wand und jene in den dreieckigen Ge-
wölbekappen werden als die Vorfahren Chrifti bezeichnet, und
diefes nicht erft von modernen Schriftitellern. Schon Condivi und Vafari
nennen als Gegenftand der Darftellung in diefen Räumen vdie Genealogie,
das heifst den Stammbaum des Heilandsa. Dafs das im Anfange
des Evangeliums Matthäi niedergelegte vBuch von der Geburt Chriftir,
die fogenannte Wurzel Ieffe, bei der Berathung des Bilderfchmucks mit
bedacht wurde, {teht unbedingt feft. Abgefehen davon, dafs das Her-
kommen da, wo die Propheten und Sibyllen gefchildert werden, auch
die Vorführung der Ahnen Chrifti verlangte, fehen wir in der That die
Namen der letzteren über den Fenftern in eingerahmte Tafeln ein-
gefchrieben. Der Stammbaum begann an der Altarwand, doch mufsten
die Namen und Bilder in. den beiden Lunetten hier fpäter dem jüngften
Gerichte weichen. Seitdem fangt die Genealogie erft an den beiden
Langfeiten an, in der Weife geordnet, dafs keineswegs die Gefchlechter-
reihen die Wand entlang gehen und in der Nähe des Altares wieder
abfchliefsen, vielmehr die Gruppen in den einander gegenüberliegenden
Bogenfeldern auf einander folgen. Die letzten Glieder des Stammbaumes,
Mathan, Jakob und jofeph, lefen wir an der fchmalen Eingangsfeite. Ver-
körpern nun die Gruppen in den Lunetten und Gewölbekappen die auf
den Tafeln eingezeichneten Namen, follten die letzteren eigentlich als
Unterfchriften der Bilder gelten, die nur der gröfseren Bequemlichkeit
wegen auf den Tafeln zufammengefchrieben wurden? Dagegen fpricht
fchon das Ueberwiegen des Frauen- und Kinderelementes in den Bild-
gruppen, dann die unüberwindlichen Schwierigkeiten, die fofort auftreten,
fobald man mit den Gruppen beftimmte Namen verbinden will, vor
allem aber die Thatfache, dafs die Gruppen in den Lunetten und ebenfo
die Gruppen in den DreiecksHächen der Stichkappen felbftändige, aus-
fchliefslich für fxch beftehende Reihen bilden. Offenbar hat Michelangelo,
als ihm der Auftrag wurde, die Vorfahren Chrifti in den Bilderkreis der
Sixtina einzuführen, fein Gewiffen in der Weife befchwichtigt, dafs er
ihre Namen an hervorragender Stelle einfchrieb, da von den meiften
derfelben doch nichts anderes als der blofse Lufthauch des Namens be-
kannt ift, und über den dadurch frei gewordenen Raum in rein künft-
lerifchem Intereffe verfügte.
Wenn die Traditionen der kirchlichen Kunft nach einer Ergänzung
der Propheten und Sibyllen durch die Vorfahren Chrifti riefen, um den