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DIE
l )ECKENB1LDER
DER
SIXTINISCHEN
KAPELLE.
lefe. Die eine Korbträgerin aber und die vor ihr ftehende nach den
Trauben im Korbe greifende Frau decken flch mit Michelangelds judith
und ihrer Magd in der Bewegung, der gegenfeitigen Stellung, der Ge-
wandung fo vollftändig, dafs nothwendig das eine Bild nach dem MuPrer
des anderen gezeichnet fein mufs. Welches aber War das Mußer? So
lange man Michelangelds Siegelring für ein antikes Werk ausgab, blieb
nur für die Annahme Raum, dafs Michelangelo die in der That köftliche
Zeichnung der Gemme nachgeahmt habe. Die faft fklavifche Abhängig-
keit des fonft fo fpröden Meifters mochte auffallen, immerhin liefs {ich
an einem intereffanten Beifpiele der durchgreifende Einf-lufs der Antike
auf die Renaiffancekunfl nachweifen. Die Sachlage änderte {ich aber
nicht wenig, feitdem man in dem Siegelringe Michelangelds ein Werk
des Cinquecento, eine Arbeit des Piermaria da Pescia erkannte, was
zuerft durch Murr im vorigen Jahrhundert gefchah, und die richtigen
Folgerungen aus diefer Entdeckung zu ziehen wagte. Ift es wahrfchein-
lich, dafs Michelangelo die Compofition eines Zeitgenoffen, den wir doch
nur als Techniker preifen können, genau wiedergab? Entfpricht es nicht
vielmehr beffer den gegebenen Verhältniffen, wenn wir Piermaria da
Pescia, der als Freund Michelangelds gefchildert wird, als den Borger
auffaffen, der von Michelangelo einfach die beiden Figuren entlehnte?
Zu denken giebt, dafs diefelben auf der Gemme durch einen Baum von
der Hauptgruppe getrennt, mit der letzteren in einem lockeren Zufam-
menhange ftehen. Vielleicht dankte der Gemmenfchneider die ganze
Compofltion Michelangelo und hat diefer den Schmuck feines Siegel-
ringes felbll entworfen.
Die beiden Eckbilder an der Altarfeite erzählen die Gefchichte von
der ehernen Schlange und von Haman's Beftrafting. In einen
wirren Knäuel flnd die armen Opfer des Schlangenregens zufammen-
gedrängt worden. Mit der Kraft der Verzweiflung fuchen f1e den Win-
dungen und Biffen der fürchterlichen Feinde zu entgehen; convulflvifch
bewegen {ich die Leiber, Todesangf": verzerrt die Gefichter. Alle fitt-
liche Befmnung ift ihnen verloren gegangen, {ie treten auf einander,
{lofsen und preffen {ich und denken ausfchliefslich nur an die eigene
Rettung. Wie Wohlthuend wirkt die Ruhe, der fromme Glaube und die
zärtliche Theilnahme an dem Loofe des Nächiten bei der gegenüber-
Pcehenden Gruppe, welche bei der ehernen Schlange das Heil fucht und
auch findet. Ohne Hafs, voll Zuverficht nähern {ich Männer, Frauen
und Kinder dem hochaufgerichteten Zeichen. Der Gatte ganz vorn
unterftützt liebevoll fein verwundetes NVeib und hilft ihr, Inbrunft und
Hoffnung im Blicke. die gebiffene Hand zur ehernen Schlange empor