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V. DIE DECKENBILDER
IN
DER
SIXTINISCHEN
KAPELLE.
reiche, unendlich ergreifende Gefchichte. Bilder des jammers und
Kummers ziehen an dem einfamen Manne unaufhörlich vorüber, zer-
trümmerte Hoffnungen, vereitelte NVünfche, vernichtete Ideale. Sie laften
fchwer auf dem Gemüthe, drücken den Kopf herab und laffen den fonft
doch Prahlharten Körper ermüden. Unwillkürlich fuchen die einzelnen
Glieder nach einer ruhigen Lage. Die Beine lind gekreuzt, der Ober-
körper vorgeneigt, der Kopf geftützt. Aber alles umfonft; der Friede
kommt nicht und auch die Ruhe nicht. Rafilos hämmern die Gedanken
und pochen die herben Empfindungen. Gerade diefe innere verhaltene
Gluth bei dem Scheine äufserer Ruhe wirkt fo mächtig und weckt das
tieffie Mitgefühl mit dem unfeligen Manne, den das Schickfal nicht ge-
brochen aber auf das Tieffte erfchüttert hat, und der nur noch auf dem
Grabe feiner liebften Hoffnungen leben foll. Es ift dasfelbe Witgefühl,
das auch die begleitenden Genien ausfprechen. Auch fie neigen das
Haupt, fenken den Blick und verharren in fiiller Theilnahme. Welche
Geheimniffe, welche unausfprechlichen Gedanken mag wohl der Künftler
in diefe Linien hineingelegt haben. Wir wiffen es nicht, obgleich wir
unwillkürlich an leife perfönliche Beziehungen, an den Wiederfchein
unmittelbarer Erfahrungen denken möchten. Das eine aber ift gewifs,
dafs die Geflalt des Jeremias es Michelangelo angethan hat, und er fie
feitdem niemals wieder völlig aus dem Sinne verlieren konnte. Was er
fchuf, immer fchwebte ihm dabei die Erinnerung an jeremias vor und
klang die Stimmung, in welche ihn die Geftalt des Propheten verfetzt
hatte, leife mit. Der Ieremias birgt den Keim zum Mofes des Julius-
denkmales in {ich und zu den Hauptftatuen der. Mediceergräber.
jeder Prophet und jede Sibylle laden zum Verweilen ein und fcheinen
dem Betrachter ein Halt zuzurufen. Was kann es auch Lockenderes
geben, als llCll in die unendliche Tiefe des Lebens und der Schönheit,
die aus jeder einzelnen Geftalt fpricht, zu verlieren? Und dennoch giebt
es etwas noch Herrlicheres und das ift: der fchöpferifchen Kraft, die
üch nie genug thut, immer neue Offenbarungen bereit hält, immer wieder
durch die Fülle und Fruchtbarkeit der Phantafie überrafcht, zu folgen.
Und fo bietet auch die Sixtina das genufsvolle Schaufpiel, dafs die
Wirkung des einen Werkes Pcets noch durch die vergleichende Betrach-
tung des andern erhöht wird, dafs man in jedem Augenblicke glaubt,
hier die Grenze der Begabung des Künftlers erreicht zu haben und im
nächften doch wieder neue Seiten an ihm entdeckt, die feflgefteckten