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DECKENBILDER
DIE
IN
DER
SIXTINISCHEN
KAPELLE.
Arm {tützt fich zu gröfserer Bequemlichkeit auf die Stuhllehne, der
andere hält noch das Buch. Das Bild des ftillen, in die innerfte Geiftes-
welt verfunkenen Denkers wäre vollkommen, wenn nicht die Richtung
des Kopfes und der Blick eine plötzliche Störung verriethen und eine
Aenderung der Stimmung andeuteten.
Die Reihe der Geftalten auf der linken Langfeite fchliefst die del-
phifche Sibylle ab. (Fig. 56.) In einem Augenblicke glücklichfter In-
fpiration gefchaffen, offenbart diefes Bild den Höhepunkt des Meifters in
einem Kreife der Darfiellung, den er nur felten betrat. Kräftig {ind die
Glieder und mächtig die Formen auch der delphifchen Sibylle, doch über-
fchreiten {ie nicht das Maafs der weiblichen holdfeligen Natur. Sie ift mit
einfach menfchlicher Schönheit gefchmückt, {ie ergreift nicht durch titanifche
Gröfse und betäubt auch nicht durch ungewöhnliche Verhältniffe. Während
der fie begleitende Genius im Buche der Zukunft eifrig lieft, "hat die
kommende Zeit für die Sibylle bereits Körper und Leben gewonnen.
Durch keine heftiger-e Bewegung äufsert {ich das Innewerden einer
aufserordentlichen Erfcheinung. Der eine Arm ruht läffig im Schoofse,
der andere, quer vor die Bruft gelegt, hält eine Rolle, welche aber
völlig unbeachtet bleibt. 1m Kopfe allein fpiegelt {ich die Viflon, welche
der "Prophetin geworden ift, wieder. Der Mund ift leife geöffnet, das
ftrahlende Auge mächtig erweitert, als könnte die Sibylle einen Laut
deriBewunderung nicht unterdrücken, als müfste {ie die ganze Offen-
barung umfaffen. Wie alle anderen Sibyllen trägt auch die delphifche
das Haar umhüllt; doch quillen unter dem dünnen Schleier Locken
hervor, deren leichtes Wehen von der inneren Erregung Kunde giebt.
Dem Jonas gegenüber auf der Eingangsfeite ift der Prophet Zacha-
rias gemalt. Der Gegenfatz zwifchen den beiden Geftalten ift giewifs
vom Künftler mit Abficht fo ftark betont worden. Während bei jonas
alles Bewegung und Leidenfchaft ift und nach aufsen ftrebt, erfcheint
der greife, langbärtige, kahlköpfige Zacharias als eine innerlich beruhigte
und gefammelte Perfönlichkeit. Er blickt, den Kopf in ein fcharfes
Profil gefiellt, in das Buch, in welchem er blättert, ohne irgend eine
Spur der Erregung zu verrathen. Auch das baufchige Gewand, das
den ganzen Körper verhüllt, contraftirt auffallend mit der Nacktheit des
Jonas. Michelangelo forgte übrigens dafür, dafs das Auge nicht allein,
wenn es die gegenüberfitzenden Geftalten betrachtet, an der Mannig-
faltigkeit der Schilderung {ich freue, fondern dafs es auch bei benach-
barten Figuren den Eindruck rhythmifchen Wechfels erfahre.
Es folgt, der erfte auf der rechten Langfeite, auf Zacharias der
Prophet ]o el. Er hält eine Bücherrolle vor {ich ausgefpannt, auf welche