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DIE
MADONNEN
RAFFAEIJS.
(der Donna gravicla in der Pitti-Galerie und dem Porträt einer Unbekannten
in der Tribuna) vor, welche unfer Stilgefühl gleichfalls diefer Zeit und
Raffael zufchreibt. Dennoch giebt Raffael feine Selbftändigkeit nicht auf.
Die forgfältige Zubereitung der Farbe, der gleichmäßige Auftrag, der
landfchaftliche Hintergrund, die Art und Weife, wie er die einzelnen
Haare, die fich dem Netze entwunden haben, zeichnet, find fein per-
fönlicheä Eigenthum.
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Die Betrachtung der Raffaelifchen Porträts führt wieder in das Ge-
clächtnifs zurück, was über dem genufsreichen Anblicke der Madonnen
und der heiligen Familien in Vergeffenheit gerieth, dafs der Aufenthalt
in Florenz für Raffael eine ernfte Schulzeit bedeutet, in welcherier üEh
x-zon dem befchränlzten umbrifchen Boden ablöft und das ganze Erbe des
florentiner Quattrocento antritt. Wie fehr feine technifchen Mittel, fein
Formenflnn, fein pfychologifcher Blick, feine Beobachtung des Lebens
an Umfang und Tiefe gewonnen haben, hat die UCbCfflCht feiner Thätig-
keit gelehrt. Am Ende feiner florentiner Laufbahn fteht Raffael un-
bePcritten in_ der erften Reihe der Maler neben Fra Bartolommeo und
Lorenzo di Credi. Man erwartet aber von der Schule in der Renaiffance-
periode gemeinhin noch mehr und ift geneigt, ihr das eingehende Studium
der Antike als Hauptaufgabe anzuweifen. So wird auch in Bezug auf
Raffael die Frage aufgeworfen: welchen EinHufs hat die Antike auf feine
Entwickelung genommen, wie frühe beftimmt fie den Inhalt und die Form
feiner Werke? Dafs auf diefe Frage die Antwort theils verneinend,
theils einfchränkend lautet, kann nur dem auffallen, welcher {ich die ge-
fainmte Renaiffancecultur als eine untrennbare Einheit denkt, die tief-
gehenden Unterfchiede zuvifchen der Bildung des Quattrocento und
Cinquecento überfleht. Unfere Vorftellungen von der Renaiffance ent-
lehnen wir überwiegend dem fechzehnten Jahrhundert, in welchem aller-
dings die Kenntnifs des klaffxfchen Alterthums an Umfang ftattlich zu-
genommen, der frühere Cultusider Antike aber eine formelle Abfchleifung
erfahren hatte und vielfach bereits zum fchöngeiftigen Spiele herabgefetzt
war. Das _ältere Menfchenalter der Renaissance läfst {ich oft zu phan-
taftifchen Anfchauungen von der Antike verleiten, es begnügt flch, ver-
einzelte Erfcheinungen derfelben zu bewundern, fafst diefe nicht zu einem
gefchloffenen Ganzen zufammen; es verleiht aber feiner Verehrung des
Alterthums beinahe einen religiöfen Ernft und giebt flch dem ehrlichen
Glauben hin, in der Antike das wahrhaftige Lebensideal zu befltzen.
Vollends im Kreife der bildenden Künfte mufs zwifchen dem fünfzehnten