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DIE
MADONNEN
RAFFAEDS.
einmal, zur felben Zeit, als er die Madonna Colonna malte und die
berühmte Grablegung vollendete, griff Raffael das Motiv auf und fchuf
die xfchöne Gärtnerim im Loiivrefk) (Fig. 41.)
Die Gefchichte des Gemäldes iPc nicht frei von Dunkelheiten. Es
ftammt noch aus der Sammlung König Franz I., obgleich es in Dan's
Befchreibung der Schätze von Fontainebleau 1642 nicht mit angeführt
ift, und foll in Siena erworben worden fein. Dann fällt es aller NVahr-
fcheinlichkeit nach mit dem Bilde zufammen, das Raffael nach Vafarfs
Bericht bei" feiner Abreife nach Rom unvollendet zurückliefs, und auf
welchemwfein Freund Ridolfo Ghirlandajo den blauen Mantel fertig
machte. In der That macht der Mantel der wbelle jardinierex den Eindruck
des nachträglich Zugefügten. Er baufcht {ich willkürlich im Rücken der
Madonna und hebt die fchöne Wirkung der feinen, fchlanken Madonnen-
geftalt theilweife auf. Räthfelhaft bleibt dann nur die eigenhändige Sig-
natur RaffaelÄs auf einem unvollendeten Werke und, was noch rathfel-
hafter, es trägt den Schein des Halbfertigen trotz Ridolfo Ghirlandajds
nachträglicher Bemühungen auch jetzt noch. An die Füfse der Madonna
iPt offenbar die letzte Hand nicht angelegt worden. Immerhin bleibt die
Compofition die eigenfte Schöpfung des Meifters und zwar eine der an-
muthigfien, die wir aus den Madonnenkreifen befitzen. Auch die ßbelle
jardinierea ift keine flüchtige Improvifation, fondern von Raffael forgfältig
vorbereitet worden. Aufser einer prächtigen Studie für die ganze Geftalt
und den linken Fufs des Chriftkindes in Oxford (Br. 24) verdient ins-
befondere eine Federzeichnung, im Befitze des Herzogs von Aumalefkik)
(früher in den Cabinetten Crozat, Mariette, Lawrence, König von Holland)
hervorgehoben zu werden. Im einfachen anliegenden Hauskleide ohne
Mantel, bis über die Knie nackt, fitzt die Madonna auf einem Steinwürfel
und hält mit beiden Händen das Chriftkind am Arm, das fich zu dem
knieenden, bekränzten Johannes vorbeugt. Diefer letztere hat auf dem
ausgeführten Gemälde die geringften Aenderungen erfahren. Nur die
Hände hat Raffael anders, natürlicher gelegt und in die Rechte ihm das
Rohr-Kreuz gegeben, aufserdem aber den Kranz aus den Haaren ent-
fernt. Den feftlichen Eindruck, den derfelbe hervorgerufen hatte, erfetzte
er, ja erhöhte er dadurch, dafs er die Haare des Johannes gleichfam
vom _Winde bewegt frei flattern läfst. "Ziimccxämen Male wendet hier
Raffael diefes wirkfame Mittel an, um den Wiederfchein der Begeifterung,
der idealen Empfindung anzudeuten. Bis dahin" gab er dem Chriftkinde
meift fchlichtes Haar und zeichnete den Johannes nach Leonardos Vor-
Stich
VOII
Desnoyers.
Pkßk)
Gaz.
arts.
XII.
168.