MADONNA
MIT
DEM
ST IEGLITZ.
107
als Gefpiel des ChriPcuskindes war ja der KunPc, war auch Raffael nicht
fremdf In zahlreichen Entwürfen fchildert er den kleinen Johannes; wie
er {ichdem Chrilrkinde naht, vor ihm die Hände faltet oder ein Gefchenk
überbringt. Selbfl das Darreichen eines Vogels kommt in früheren Hand-
zeichnungen vor, z. B. auf einem Oxforder Blatte, welches fonPc mit der
Madonna del Cardellino keine Aehnlichkeit aufweift. Das (lhrifrkind ützt
dafelbPc
auf
dem
Schoofse
der
Madonna
und
hält
{ich
ihrem
Bufen
feft. Jedenfalls waren die Elemente des Madonnenbildes bereits in ver-
fchiedenen Entwürfen vorhanden, und es galt nur, ähnlich wie Kriftalle
unter gewiffen günftigen Bedingungen zufammenfchiefsen, durch die Kraft
der fchöpferifchen Phantafle diefelben einheitlich zu durchdringen. Einen
grofsen Schritt that der Meifter in einer Oxforder Biiterzeichnung (Br. 2 3)
vorwärts. Es herrfcht nicht allein in den allgemeinen Zügen eine voll-
kommene Uebereinftimmung mit dem Gemälde, felblt Einzelheiten, wie
z. B. das Auftreten des Kindes auf den Fufs der Madonna, erfcheinen
hier fchon verkörpert. Darin aber zeigt {ich noch der Zufamrnenhang
mit älteren Compoiitionen, dafs die Thätigkeit der dargeftellten Perfonen
im Lefen und Zuhören ihren Mittelpunkt findet. Die Madonna hat das
Gebetbuch, das fie früher hoch hielt, gefenkt, fo dafs nun auch das kleine
Chriftkind bequem, ohne aufzufchauen, in dasfelbe blicken kann. Es ift,
als 0b wir einer Lefeübung des letzteren beiwohnten, welcher Mutter
und Gefpiele mit Aufmerkfamkeit folgen. Vielleicht, dafs dem Künltler
diefe Befchäftigung für Kinder zu ernft dünkte, oder dafs ihm die aller-
dings etwas fteife Haltung des Johannesknaben mifsfiel genug, er warf
noch einmal, ehe er zur Ausführung in Farben fchritt, die Comp0f1ti0n
um. Die gMadonna nimmt das Buch aus der Rechten, in die Linke, in
welcher es, ohne weiter beachtet zu werden, ruht; der kleine Johannes,
von der Mutter freundlich umfafst, rückt an die Hauptgruppe unmittelbar
heran und tritt zu dem Chriftkinde in eine unmittelbare Beziehung. Ob
die Compofition auch aufserhalb des Reiches der unermüdlich wirkenden
und ändernden Phantafie noch viele Zwifchenftufen erklimmen mufste,
bis fie die letzte Höhe erreichte; wiffen wir nicht mehr genau. Aufser
den erwähnten Blättern giebt es noch. mehrere Skizzen, z. B. in Lille
und in der Sammlung des Herzogs von Devonfhire iin Chatsworth.
Jedenfalls zeigt die vollendete Tafel die Gruppe feiter gefchloffen, die
Stimmung einheitlicher gehalten als alle früheren Entwürfe, fo dafs die
leider fchlecht erhaltene und wiederholt reftaurirte Madonna del Cardellino
als der wahre Schlufsftein der letzteren gerühmt werden kann. Sie iPc
aber nicht das letzte Glied der Entwickelungsreihe, welche das Bild der
mit den beidenmKindern im Freien raPcendedMadonna durchläuft. Noch