MAD.
NICCOLINI,
COLONNA,
BRID GEWATER-
MAD ONNA.
IOI
Anlage der Gruppe, die mächtige Fülle der Geflalten, die unbefangene
Freiheit der Bewegung. Das Chriftkind ift zum Knaben geworden, der
nicht mehr ruhig auf dem mütterlichen Schoofse fitzen mag, fich zum
Aufffehen anfchickt und mit beiden Händen fich zu helfen fucht. Die
einevlHand hat er auf die Achfel der Madonna gelegt, mit der anderen
ihren Bruftfaum ergriffen. Sie felbft legt das Buch, in dem {ie bisher
gelefen, zur Seite und fleht zärtlich vergnügt dem Spiele des Knaben
zu. Darin klingt das ältefte der Raffaeffchen Madonnenrnotive, die
Madonna mit dem Buche, wieder an, doch ganz ungezwungen, gleichfam
nebenbei, um die frifche Lebendigkeit der Hauptfcene zu erhöhen. Die
Freude an derfelben bewog Raffael auch fpäter, nachdem er bereits
Florenz verlaffen hatte, auf den Gegenftand zurückzukommen. Die fo-
genannte Bridgewater-Madonna im Befitze des Lord Ellesmereäi)
giebt der Gruppe eine noch freiere Löfung, der Bewegung des Chrift-
kindes einen noch gröfseren bewufsten Schwung, den Formen eine mäch-
tigere Schönheit als alle bisher genannten Darftellungen. Der Chriftus-
knabe ruht auf dem Schoofse im rechten Arm der Madonna. Sein Leib
contraftirt mit feinem Kopfe in der Wendung; mit dem einen Arme
fcheint er {ich von der Mutter wegbewegen zu Wollen, mit dem anderen
um den Kopf herumgelegten greift er nach dem Schleier der Madonna,
welche Kopf und Oberleib nach links neigt, während der Sitz nach
rechts weift. Diefer vollendete Rhythmus der Linien verleiht dem fchlecht
erhaltenen aber in Zeichnungen vom Künffler forgfam vorbereiteten Werke
eine wunderbare Anziehung und offenbart die höchfte Reife Raffaefs, als
er es fchuf. Aehnliches gilt von dem ebenfalls, wie die Bridgewater-
Madonna von Holz auf Leinwand übertragenen, ffark verdorbenen Madon-
nenbilde, welches aus der Sammlung Orleans in Privathände überging,
längere Zeit bei dem Dichter Roge rs in London, zuletzt bei der reichen
lWIifs Burdett Coutts fich befand. Die Madonna hält das Chriftuskind,
das auf einer Brüftung fteht, im Ami; und prefst es zärtlich an iich. In
dem breit angelegten Faltenwurfe, wie in den kräftigen Körperformen
liegt der Schlüffel zur Zeitbeftimmung des Werkes, das ungefähr gleich-
zeitig mit der Bridgewater- Madonna entftanden fein mufs und offenbar
einer Periode angehört, in welcher die urfprüngliche Bedeutung des
Motives fchon verklungen war. Dennoch bleibt der formelle Zufammen-
hang mit den Madonnen aus Raffaefs Jugendzeit noch aufrecht. Es wird
ja nicht das Religiöfe durch das Profane, fondern nur das Kirchliche
a) Stiche von Anderloni und Lecomte.
Skizzen: Florenz Br. 490; Louvre,
Br. 276. Verwandte Studien in der
Albertina, in Chatsworth. Br. Mufeuln.