DIE
MAD ONNEN
RAFFAEDS.
Bilder werden mühelos entdeckt. Man bewundert die Mannigfaltigkeit
innerhalb enger Grenzen, den unermüdlichen Sinn des Künftlers, dem
Grundgedanken immer wieder neue Züge abzulaufchen; aber gröfseres
Staunen erweckt noch die Kraft, die {ich in jedem einzelnen Falle ganz
und gefchloffen giebt, fo dafs man fiets das Beile, was der Künltler zu
leiften vermag, zu fehen glaubt und niemals die Spuren der Abfpannung,
fo leicht fonft durch die Wiederholung eines Gegenftandes hervorgerufen,
bemerkt. Diefes gilt fowohl von der Madonna aus dem Haufe Orleans,
wie von der Madonna Tempi, von der Madonna Niccolini, wie von der
Madonna Colonna, von der Bridgewater-Madonna, wie von jener der
Mifs Burdett Coutts, welche alle zwar verfchiedenen Jahren aber dennoch
einem verwandten Gedankenkreife angehören.
Die Madonna aus dem Haufe Orleansiit), welche jüngft wieder
in den Belitz eines Gliedes diefer Familie, des Herzogs von Aumale, ge-
langte, nachdem fie Philipp Egalite mit vielen anderen Kunflfchätzen, um
fchmutzige Spielfchulden zu bezahlen, I 792 in London hatte veräufsern
müffen, nimmt keinen grofsen Raum in Anfpruch. (Fig. 37.) Diefe geringe
Höhe (29 Cm. auf 21) genügt aber, wie bei der Madonna Coneftabile und
der Madonna mit dem Lamme in Madrid doch vollkommen, um den
ganzen Zauber der Anmuth und des Liebreizes über die Mariengeilalt
zu ergiefsen. Die Madonna, beinahe im Profil gefehen, das reiche Haar
unter einem durchiichtigen Schleier wellenförmig zurückgelegt, das eine
Bein zu gröfserer Bequemlichkeit erhöht, fltzt in einer fchmalen, bürger-
lich eingerichteten Stube mit dem Chriftkinde auf dem Schoofse. Sie
hält und {tützt das Kind ähnlich wie auf dem kleinen Bilde des Lord
Cowper. Mit der einen Hand hat Iie es umfafst, auf die andere läfst
fie feinen Fufs auffetzen und hilft fo dem Kinde, das an ihr emporflrebt
und mit beiden Händchen nach dem Bruftfaurne greift. Die fchlanken
und elaftifchen Körperformen der Madonna kommen dadurch zu be-
ifonderer Geltung, dafs der Mantel auf den Schoofs gefunken ift und den
Oberkörper nur ein eng an den Leib {ich anfchmiegendes Gewand be-
deckt, fo dafs die weichen runden Umriffe der Glieder unverhüllt fich
zeigen können. Wie bei vielen Gemälden Raffaefs aus diefer Zeit
ift die Farbe ganz dünn aufgetragen, kaum in den weifslichen Lichtern
etwas kräftiger impaflirt, doch leidet die Modellirung darunter ebenfo
Stich
VOII
Forfier.