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Goethes
ÄÄsthctik.
und seelisch so empfindlich, dafs er beständig nach
Verteidigungsmitteln streben mufste. Schiller brauchte
seine ganze Elastizität, um sich in der dunkelsten Zeit
des Winters "gegen den herunterdrückenrlen Himmel
Luft und Raum zu machenm), Goethe fühlte ebenso;
ihn quälte namentlich auch jeder tiefe Barometerstand.
Seine Empfindlichkeit zeigte sich auch darin, dafs Kaffee
und Thee wie Gift auf ihn wirkten und dafs ihm von
Arzeneien kleinere Dosen verordnet werden mufsten,
als andere bekamen. Gegen peinliche Eindrücke von
aufsen mufste er sich sehr in Acht nehmen. Leichen
sah er nie, wenn er es irgend vermeiden konnte; in ein
Irrenhaus einzutreten, konnte man ihn nicht bewegen.
Seinem Kunstfreuntle Sulpiz Boisseree fiel es im Mai 1826
auf, dafs Goethe seine Schwiegertochter, die bei einem
Falle vom Pferde sich das Gesicht verletzt hatte, nicht
sehen wollte. Er mochte verdriefslich sein über die
tollen Abenteuer Ottiliens, aber namentlich fürchtete er
sich doch vor dem entstellten, verwundeten Antlitz.
„Ich werde solche häfslichen Eindrücke nicht wieder
los," erklärte er, und weiter: "Ich bin hinsichtlich meines
sinnlichen Autfassungsvermögens so seltsam geartet, datfs
ich alle Umrisse und Formen aufs schärfste und be-
stimmteste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch
Mifsgestaltungen und Mängel mich aufs lebhafteste
afüziert finde. Der schönste, kostbarste Kupfersticlm, wenn
er einen Flecken oder Bruch bekommt, ist mir sofort
unleidlich. Wie könnteich mich aber über diese, oft
freilich peinliche Eigentümlichkeit itrgern, da sie mit
anderen erfreulichen Eigenschaften meiner Natur innigst
An
Goethe,
Novcmbe:
1797