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Goethes
Ästhetik.
Schon als junger Mann war er dazu gelangt, das:
ihm innewohnende dichterische Talent als Natur zu be-
trachtenJ) "Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte
zwar durch Veranlassung enegl und bestimmt werden;
aber am freudigsten und reichlichsten trat sie univillkür-
lich, ja wider Willen hervor."
"Durch Feld und YVald zu schweifen,
Mein Liedchen wegzupfeifen,
So ging's den ganzen Tag."
„Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall
ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgängen?)
mir ein ledernes Wams machen zu lassen und mich zu
gewöhnen, im Finstern durch's Gefühl das, was un-
vermutet zu Üxieren. Ich war so ge-
wohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es iwieder
zusammenfinden zu können, dafs ich einigenmle an
den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen
quer liegenden Bogen zurechtzurücken, sondern das
Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von
der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunter-
schrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber
zu dem Bleistift, welcher williger die Züge bergab; denn
es war mir einigemale begegnet, dal's das Schnarren und
Spritzen der Feder mich aus meinem nztchtwandle-
rischen Dichten ztufweckte, mich zerstreute und ein
kleines Produkt in der Geburt ersticktefß)
Auch zu Boisseree sagte Goethe einmalß) dafs ihm
die Gedichte auf einmal und ganz in den Sinn kämen,
1) Aus meinem
auch Eckermann, 14.
nmnn III, 206.
Leben, IV,
März 1830.
Ä
9) Petrarka.
8. August 1815,
3) Vgl.
Bieder-