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Goethes
Ästhc
ztik.
aber auf keinem anderen Wege hervorgebracht werden
kann. Sollte sich im Gegenteil zeigen, dafs diese
Neigung zur Dichtkunst jene Probe nicht aushielte, so
würden Sie doch den anderen Gewinn rein besitzen."
Goethe hat selber vor der italienischen Reise diese
Probe auf das ehrlichste Clurchgernacht; schliefslich
rnufste er den Geschäften des Staatsbeamten entfliehen,
weil er ohne häufigeren Verkehr mit der Kunst nicht
mehr leben konnte. Wenn er in späteren Jahren sich
durch andere Geschäfte wiederum von der Dichtkunst
längere Zeit abziehen liefs, so litt er darunter. Schiller
hatte ganz recht, ihn dann zu schelten: „Die Natur
hat Sie einmal bestimmt, hervorzubringen; jeder andere
Zustand, wenn er eine Zeit lang anhält, streitet mit
Ihrem Wesen. Eine so lange Pause, als Sie diesmal in
der Poesie gemacht haben, darf nicht mehr vor-
kommenf")
Ähnlich hatte in jungen Jahren schon Merck zu ihm
gesprochen, dessen scharfer Blick sogleich den Unter-
schied zwischen Goethe und seinen damaligen Freunden,
den Grafen Stolberg, herausfand. Diese suchten (las
sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen,
„und das giebt nichts wie dummes Zeug." „Dafs du mit
diesen Burschen ziehst," rief der Ehrliche aus, „ist ein
thörichter Streich. Dein Bestreben, deine unablenkbare
Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu
geben. Du wirst nicht lange bei ihnen bleibenf")
„Dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben,"
d. h. doch auch: immer vom Wirklichen und Wahren
1) An Goethe, 5. März 1799. 9) Aus mcinem Leben
IV, I8.