Göttin XVahrheit. 65
totgeboren da; denn was nicht eine wahre innere
Existenz hat, hat kein Leben und kann nicht grofs sein
und nicht grofs werden." Und als er fast ein Jahr lang
im ständigen Verkehr mit der antiken Welt gelebt hatte,
war er noch derselben Meinung. "Diese hohen Kunst-
werke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von
Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervor-
gebracht worden. Alles Willkürliche. Eingebildete fällt
zusammen: da ist die Notwendigkeit, da ist Gottf")
Goethe, der einst in schwärmerischer Art den
gotischen Münster zu Straßburg verherrlicht hatte,
blieb nun sein Leben lang ein Schüler und Bekenner
der Antike, eben weil sie im Vergleich zur Gotik, zur
Romantik, zum Nazarenertum und andern Richtungen
mehr Wahrheit bietet. 1808 verglich er einmal in
einem Gespräch mit Riemer das Antike mit der neuen
Romantik?)
"Das antike Tragische ist das menschlich Tragierte.
Das Romantische ist kein natürliches, ursprüngliches,
sondern ein gemachtes, gesuchtes, gesteigertes, über-
triebenes, bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikatur-
artige. Kommt vor wie ein Redoutenwesen, Maskerade,
grelle Lichter-Beleuchtung. Ist humoristisch (d. h.
ironisch, vgl. Ariost, Cervantes; daher ans Komische
grenzend und selbst komisch) oder wird es augenblicklich,
sobald der Verstand sich daran macht, sonst ist es
absurd und phantastisch. Das Antike ist noch bedingt
(wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich,
unmöglich.
L
L
')lta1. Reise, Rom 6. Se]
Biedermann II, 216.
W. Bude, Goethes Ästhetik.
xtember I 78 7.
August 1803,
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