Göttin
Wahrheit.
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verschieden," lehrt er denn auch, 1) und weiter: "Der echte
gesetzgebende Künstler strebt nach Kunstwuhrheit, der
gesetzlose, der einem blinden Triebe folgt, nach Natur-
wirklichkeit; durch jenen wird die Kunst zum höchsten
Gipfel, durch diesen auf die niedrigste Stufe gebrachtfm)
Sogar der Oper, deren Autoren sich doch um Wirklichkeit
und Wahrscheinlichkeit sehr wenig Gedanken machen,
schreibt er Wahrheit zufl) eben die Kunstwahrheit.
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XVenn wir forschen, was Goethe unter Kunstwahrheit
versteht, so liegt der Gedanke nahe, dafs er nur
diejenigen Abweichungen von der Wirklichkeit recht-
fertigen werde, die der Künstler aus künstlerischen Be-
weggründen heraus vornimmt. Bietet ein Pfuscher uns
Unwirkliches aus Unwissenheit oder Unvermögen oder
Unaufmerksamkeit, so ist das kein Künstlerrecht mehr,
sondern Unfug. Goethe empfand solche unüberlegten
Verstöfse gegen die Realität, wie sie sich auch bei den
Meistern zuweilen finden, immer schmerzlich. "Bei
Walter Scott," sagte er einmal,4) „ist es eigen, dafs
sein grofses Verdienst in Darstellung des Details ihn
oft zu Fehlern verleitet. So kommt im ,Ivanhoe' eine
Scene vor, wo man nachts in der Halle eines Schlosses
zu Tische sitzt und ein Fremder hereintritt. Nun ist
es zwar recht, dafs er den Fremden von oben herab
beschrieben hat, wie er aussieht und wie er gekleidet ist,
allein es ist ein Fehler, dal's er auch seine Füfse, seine
1) Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Krmst-
werke 1798. 9) Einleitung in die Propyläen 1798. 3) Uher
Wahrheit und YVahrschcinlichkcit der Kunstwerke 1798.
4) Eekermanu, II. März 1831.