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Goethes
Ästhetik.
auch in der Nacht draufsen bleiben würden. Verschiedene
Dörfer und eine Stadt schlossen den hellen Horizont
des Bildes, worin man den Begriff von Thätigkeit und
Ruhe auf das anmutigste ausgedrückt fand. Ilas Ganze
schien mit solcher Wahrheit zusammenzuhängen, und
das Einzelne lag mit solcher Treue vor Augen, dafs
Eckermann die Meinung äufserte, Rubens habe dieses
Bild wohl ganz nach der Natur abgeschrieben.
"Keineswegs," sagte Goethe, „ein so vollkommenes
Bild ist niemals in der Natur gesehen worden, sondern
wir verdanken diese Komposition dem poetischen Geiste
des Malers. Aber der grofse Rubens hatte ein so
außerordentliches Gedächtnis, dafs er die ganze Natur
im Kopfe trug und sie ihm in ihren Einzelheiten
immer zu Befehl war. Daher kommt die Wahrheit
des Ganzen und Einzelnen, so dafs wir glauben,
alles sei eine reine Kopie nach der Natur." Der
Dichter hält es nicht anders. Sobald der ,Werther'
erschienen war, erlebte Goethe, was ihn noch manches
Mal plagen sollte, dal's das Publikum am begierigsten
danach fragte, was an der Erzählung wahr sei, wer z. B.
das Vorbild der Lotte gewesen. Wohl hatte er die
Hauptzüge von Charlotte Buff genommen, aber er war
auch in der angenehmen Lage jenes Künstlers gewesen,
dem man Gelegenheit gab, eine Venus aus mehreren
schönen Modellen herauszustudieren. So hatte er denn
aus der Gestalt und den Eigenschaften mehrerer hübschen
Kinder seine Heldin gebildet. 1) Es sind also die Dichter
und die Maler ebensogut Komponisten wie diejenigen,
die Töne zusammensetzen.
Li
1) Aus meinem Leben,