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Goethes
Ästhetik.
gange ein Gleiches obwaltet und (lurch alles irdisch
Rohe, Wilde, Grausame, Falsche, Eigennützige, Lügen-
hafte sich durchschlingt und überall einige Milde zu
verbreiten trachtet, so ist zwar nicht zu hoffen, dal's ein
allgemeiner Friede dadurch sich einleite, aber doch, dal's
der unvermeidliche Streit nach und nach läfslicher
werde, der Krieg weniger grausam, der Sieg Weniger
übermütig. Was nun in den Dichtungen aller Nationen
hierauf hindeutet und hinwirkt, dies ist es, was die
übrigen sich anzueignen haben. Die Besonderheiten
einer jeden mufs man kennen lernen, um sie ihr zu
lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren; denn
die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und
ihre Münzsorten: sie erleichtern den Verkehr, ja sie
machen ihn erst vollkommen möglich. Eine wahrhaft
allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn
man das Besondere der einzelnen Menschen und Völker-
schaften auf sich beruhen läfst, bei der Überzeugung
jedoch festhält, dafs das wahrhaft Verdienstliche sich
dadurch auszeichnet, clafs es der ganzen Menschheit
angehört. Zu einer solchen Vermittelung und wechsel-
seitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer
Zeit schon bei. Wer die deutsche Sprache versteht und
studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen
ihre Waren anbieten; er spielt den Dolmetscher, indem
er sich selbst bereichert."
Wir haben hier einen patriotischen Lieblingsgedanken
Goethes vor uns, von dem er oft gesprochen hat.
Gerade die Deutschen hielt er für berufen, ihre Sprache
und Litteratur für die geistige Versammlung der Völker
darzubieten, denn nicht nur die Ausdrucksfähigkeit und
Vieltönigkeit unserer Sprache, sondern namentlich auch