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Ästhetik.
Goethes
andere Mitteilungen, die ein sonst sonderbares, mifs-
verständliches Reden oder Handeln natürlich erscheinen
lassen. Schon der Lyriker soll die Empfindungen, die
er ausdrückt, motivieren; Goethe betonte, dafs die wahre
Kraft eines lyrischen Gedichtes in der Situation, in den
Motiven bestehe?) Der Epiker und Dramatiker haben
im Motivieren viel weiter zu gehen als der Lyriker, der
"sich auf Andeutungen beschränken rnufs. Goethe zeigt
sich als echter Dichter, wenn er von sich selbst erzählt:
„In mir lag entschieden und anhaltend das Bedürfnis,
nach den Maximen zu forschen, aus welchen ein Kunst-
voder Naturwerk, irgend eine Handlung oder Begebenheit
herzuleiten sein möchtef") Als Schiller den ,Tell'
schrieb, wollte er den Gefsler geradezu und unmotiviert
einen Apfel vom Baume brechen und vom Kopfe des
Knaben schiefsen lassen. Das schien Goethen un-
leidlich, und er überredete den Freund, diese Grausam-
keit doch wenigstens dadurch zu motivieren, dafs er
"Tells Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters
gegen den Landvogt grofsthuen lasse, indem er sagt,
dafs sein Vater wohl auf hundert Schritte einen Apfel
vom Baum schieße?)
Das Motivieren des Dichters darf freilich nicht so
weit zurück gehen wie das des Ethikers; er hat sich an
die zunächstliegenden Ursachen zu halten und ent-
fernteste Ursachen zu ignorierenf) um nicht weit-
schweifig zu werden, aber auch mit seinem geringeren
Mafse des Erklärens ist schon viel Gutes gethan.
1) Eckermann, I8. Januar 1825. 2) Aus meinem Leben.
Fragmentarisches. jugendepochc. 3) Eckcrmann, ISJanuar 1825.
4) Vgl. Gespräche mit Ricmcr, um den 24.Juli 1809 und Sept. 1806.