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Goethes
Ästhetik.
ereignen, was will bedenke, dieses widerfahre ihm
als Menschen und nicht als einem besonders Glück-
lichen oder Unglücklichen. Nützt ein solches Wissen
nicht viel, um das Übel zu vermeiden, so ist es doch
sehr dienlich, dafs wir uns in die Zustände finden, sie
ertragen, ja sie überwinden lernenf") Als Goethe voll
von seiner Dichtung ,Herinann und Dorotheai war
und sich ausmalte, wie er sie zum erstenmale vor-
gelesen haben würde, schrieb er die Zeilen an die
Freunde nieder:
"Hab ich euch Thränen ins Auge gelockt und Lust in die Seele
Singencl geflöfst, so kommt, drückct mich herzlich ans Herz!
Weise dann sei das Gespräch! uns lehret Weisheit am Ende
Das Jahrhundert; wen hat das Geschick nicht geprüft?
Blickct heiterer nun auf jene Schmerzen zurücke,
Wenn euch ein fröhlicher Sinn manches entbehrlich erklärt!
Menschen lernten wir kennen und Nationen; so lafst uns
Unser eigenes Herz kennend, uns dessen erfreu'n!"2)
Die Weisheit, die uns der Dichter lehrt, ist zuerst
Sachlichkeit. Wenn wir ein Drama sehen, einen Roman
lesen, nehmen wir manche Denk- und Handlungsweise
mit ruhigem Verständnis auf, die wir, wenn sie uns im
wirklichen Leben entgegentreten, durch unsere persön-
lichen Wünsche verblendet, im trüben Lichte entstellt
erblicken. „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es
hat niemand Gewissen als der Betrachtendeßil) Und-
„nur das Kunstwerk regt die Betrachtung auf;
der historische Fall, wenn er gegenwärtig ist, oder"
die That, nur Hass und Liebe, Abneigung und Zuneigung,
Leben
1796.
1) Aus meinem
Dorothea", Dezember
2). Gedicht ,Herma.nm
Sprüche in Prosa.
und