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Ästhetik.
Goethes
gehenden Charakter. Dies ist der Charakter des Grofs-
artigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-
Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen
Denkungsweise, der reinkräftigen Anschauung, und
welche Eigenschaften man noch sonst aufzählen könnte.
Finden sich nun aber alle diese Eigenschaften nicht
blofs in den auf uns gekommenen dramatischen, sondern
auch in den lyrischen und epischen Werken; finden wir
sie ferner bei den Philosophen, Rhetoren und Geschichts-
schreibern und in gleich hohem Grade in den auf uns
gekommenen Werken der bildenden Kunst: so mufs
man sich wohl überzeugen, dafs solche Eigenschaften
nicht blofs einzelnen Personen anhafteten, sondern dafs
sie der Nation und der ganzen Zeit angehörten und in
ihr in Kurs waren.
„Nehmen Sie Burns! Wodurch ist er grofs, als dafs
die alten Lieder seiner Vorfahren im Munde des Volkes
lebten, dafs sie ihm sozusagen bei der Wiege gesungen
wurden, dafs er als Knabe unter ihnen heranwuchs und
die hohe Vortrefflichkeit dieser Muster sich ihm so
einlebte, dafs er darin eine lebendige Basis hatte,
worauf er weiter schreiten konnte? Und ferner, wodurch
ist er grofs, als dafs seine eigenen Lieder in seinem
Volke sogleich empfängliche Ohren fanden, dafs sie
ihm alsobald im Felde von Schnittern und Binderinnen-
entgegenklangen und er in der Schenke von heitern
Gesellen damit begrüfst wurde. Da konnte er freilich
etwas werden!"
Künstlerische Kultur des ganzen Volkes mufs die
Einzelnen, denen die Gabe der Gestaltung gegönnt ist,
zur höchsten Höhe emportragen. "Viele Gedanken.
heben sich erst aus der allgemeinen Kultur hervor wie