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Goethes
Ästhetik.
sollte er abends noch viel tiefere Eindrücke empfangen,
die ihm, dem Dichter, unvergefslich bleiben mufsten.
Er hatte sich Schiffer bestellt, die es noch verstanden,
wie ihre Vorfahren Gesänge des Tasso und Ariost
nach eigenartigen Melodieen zu singen. Bei Mondschein
bestiegen sie eine Gondel, Goethe safs mit einem alten
Ortskundigen in der Mitte und hatte den einen Sänger
vor, den andern hinter sich. Die Schiffer fingen ihr Lied
an und sangen abwechselnd Vers für Vers. Die Melodie
kannte der Deutsche schon aus Rousseaus Schriften;
es War ein Mittelding zwischen Choral und Rezitation
und ist in ihrer Eigenart nur durch ihre Entstehung zu
erklären. Man mufs sich nämlich ursprünglich die
Sänger weit von einander getrennt denken. Der eine
sitzt am Ufer einer Insel oder eines Kanals auf seiner
Barke und läfst sein Lied schallen, so weit er kann.
Über den stillen Wasserspiegel verbreitet sich's. In der
Ferne hört es ein anderer, der die Melodie und die
Worte kennt, und er antwortet nun dem ersten mit dem
folgenden Verse; hierauf erwidert wieder der erste, und
so ist einer immer gleichsam das Echo des andern.
Wenn ein Zuhörer gerade mitten ztvischen beiden ist,
versteht und geniefst er diese nächtliche Unterhaltung
am besten. Goethes Begleiter stiegen deshalb am Ufer
der Giudecca aus und gingen in verschiedener Richtung
am Kanal hinweg. Goethe schritt zwischen beiden hin
und her, so dafs er immer den verliefs, der zu singen
anfangen sollte, und sich dem andern näherte, der eben
aufgehört hatte. Da ward ihm der Sinn des Gesanges
erst aufgeschlossen. Als Stimme aus der Ferne klang
es höchst sonderbar, wie eine Klage ohne 'l'rauer, es
war darin etwas unglaublich Rührendes. Goethe hatte