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Goethes
Ästhetik.
gehört zu der Einbildung, als ob unser künstlerisches
Talent nach einiger Anerkennung und Ausbildung
denen der berühmtesten Dichter oder Musiker oder
Maler oder Schauspieler gleich komme. Jeder be-
wundert lieber sich selbst als die längst vorhandenen
Kunstwerke, unsere eigenen persönlichen Wünsche
liegen uns näher als die Bedürfnisse der Landsleute.
.„Es ist kein Ernst da, der ins Ganze gehtf") klagt
Goethe, „kein Sinn, dem Ganzen etwas zu Liebe zu
thun, sondern man trachtet nur, wie man sein eigenes
Selbst bemerklich mache und es vor der Welt zu
möglichster Evidenz bringe. Dieses falsche Bestreben
zeigt sich überall, und man thut es den neuesten
Virtuosen nach, die nicht sowohl solche Stücke zn
ihrem Vortrage wählen, woran die Zuhörer reinen
musikalischen Genufshaben, als vielmehr solche, worin
der Spielende seine erlangte Fertigkeit könne bewundern
lassen. Überall ist es das Indivitluum, das sich herrlich
zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches
Streben, das dem Ganzen und der Sache zu Liebe sein
eigenes Selbst zurücksetzte."
Goethe hatte, als er so sprach, allerdings einen
krassen Fall der Dilettanteneitelkeit im Sinne: da es
lange schien, als 0b er den zweiten Teil des ,Faust'
nicht mehr zu Stande bringen werde, hatte ihn ein
junger Studierender um den Plan gebeten, damit er, der
Student, Goethes Werk vollende!
Aber solche krassen Fälle der Eitelkeit, sind sie
selten? Goethen traten sie immer wieder vor die Augen.
Eckcrmann,
April
1825