Das
Kritisiercn.
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„Ein deutscher Schriftsteller ein deutscher Mär-
tyrer!" sagte er in seinen letzten Iahren zu Eckermannß)
mein Guter, Sie werden es nicht anders finden. Und
ich selbst kann mich kaum beklagen; es ist allen Andern
nicht besser gegangen, den meisten sogar schlechter,
und in England und Frankreich ganz wie bei uns. Was
hat nicht Moliere zu leiden gehabt, und was nicht
Rousseau und Voltaire! Byron ward durch die bösen
Zungen aus England getrieben und würde zuletzt ans
Ende der Welt geflohen sein, wenn ein früher Tod ihn
nicht den Philistern und ihrem Hafs enthoben hätte."
„Und wenn noch die bornierte Masse höhere
Menschen verfolgte! Nein, ein Begabter und ein
Talent verfolgt das andere. Platein ärgert Heine und
Heine Platen, und jeder sucht den Andern schlecht
und verhafst zu machen, da doch zu einem friedlichen
Hinleben und Hinwirken die Welt grofs und weit genug
ist, und jeder schon an seinem eigenen Talent einen
Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht!"
Der Parteigeist zeigt sich besonders auch als
Carneraderie; das Sprichwort "Eine Hand wäscht die
andere" wird auch in die hohen Gefilde der Kunst
und Wissenschaft hinaufgetragen. Gar mancher richtet
die Ergebnisse seines Denkens danach ein, dal's er
äufserliclie Vorteile, Stellung und Reichtum gewinne.
"Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und
Wie wenig es ihnen um wahrhaft grofse Zwecke zu
thun ist, nie so kennen gelernt," meinte Goethef) „wenn
ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen
Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah
1) 14. März 1830. 2)
W. Bode, Goethes Ästhetik.
Eckermann,
Oktober
1 7
1825.