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Ästhetik.
Goethes
wunderbare Reise nicht, um mich selbst zu betrügen,
sondern um mich an den Gegenständen kennen zu
lernen: da sage ich mir denn ganz aufrichtig, dal's ich
von der Kunst, von dem Handwerk des Malers wenig
verstehe." S0 sollte jeder Kritiker sich immer wieder
fragen, 0b nicht die Schuld an ihm selber liegt, wenn
ein Kunstwerk nicht zu ihm spricht. "Wer einem Autor
Dunkelheit vorwerfen will, sollte erst sein eigenes Innere
beschallen, ob es denn auch da recht hell ist. In der
Dämmerung wird eine sehr deutliche Schrift unlesbar." 1)
Aber:
"Sie sagen: ,Das mutet mich nicht an!'
Und meinen, sie hiitterfs abgethanß)"
Schlimmer noch, wenn der Kritiker, weil er an das
Werk des Autors nicht heranreicht, es irgendwie in
seiner Phantasie und seinem Berichte karikiert, um es
in seiner entstellten Form leicht abzuthun. Auch Goethe
hatte zu klagen:
"Sie haben mir meine Gedanken verdorben
Und sagen: sie hätten mich widerlegt."
Die Kritiker vergessen gar gern, dafs sie vielleicht
vor dem Künstler sich wie vor einem Fürsten zu ver-
neigen alle Ursache hätten. Sie treiben ihr Geschäft
ja nicht blofs an den Unbedeutenden, sondern oft gar
an Heroen wie etwa Sophokles. Und doch: "Wenn
ein moderner Mensch an einem so grofsen Alten Fehler
zu rügen hätte, sollte es billig nicht anders geschehen,
als auf den Knieen." a)
1) Aphorismen. 2) Gedichte.
mann, 28. März 1827.
Sprichwörtlich. 3) Ecker-