Kritisicrcn.
Das
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Das übereilige, hochmütige Aburteilen ist die erste
Gefahr. Als die ,Wahlvenvandtschaften" eben erschienen
waren, wunderte sich ein Philister, wie Goethe zwei
Bände über diese chemische Sache schreiben mochte,
da er ja nichts als das Bekannte, was in einem Kapitel
der Chemie erledigt werde, abhandlef) Solche Schnell-
fertigkeit im Kritisieren ist so ganz selten nicht; ge-
wöhnlich erscheint sie allerdings in milderen Formen.
In Gemälde-Galerieen macht sie sich täglich breit:
„Man spricht sein augenblickliches unvorbereitetes Ur-
teil aus, ohne nur irgend zu bedenken, dafs jeder
Künstler auf gar vielfache Weise bedingt ist durch sein
besonderes Talent, durch Vorgänger und Meister, durch
Ort und Zeit, durch Gönner und Besteller. Nichts von
alledem, welches freilich zu einer reinen Würdigung
nötig wäre, kommt in Betrachtung, und so entsteht
daraus ein gräfsliches Gemisch von Lob und Tadel,
von Bejahen und Verneinen, wodurch jeder eigentümliche
Wert der fraglichen Gegenstände ganz eigentlich auf
gehoben wirdf")
Goethe hielt es anders, wie wir schon angedeutet
haben. Als er nach Italien reiste, hatte er sich doch
auch schon manche Stunde mit bildender Kunst be-
schäftigt; dennoch schreibt er in München am 6. Sep-
tember 1786: „Im Antikensaale konnte ich recht be-
merken, dafs meine Augen auf diese Gegenstände nicht
geübt sind Vieles sprach mich gar nicht an, ohne
dafs ich sagen konnte, warum." Und in Verona be-
merkt er am I7. September ähnlich: „Ich mache diese
1) Riemers Tagebuch, 28.
Bericht vom Dezember 1787.
Januar
18m.
Ital.
Reise,