Das
Geniefsen
Kunstwerke.
der
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des Aufwärtsdringens nicht ausbleibt. Goethe _war
dankbar, dafs er in jungen Iahren in Leipzig, Dresden
und Mannheim" Gipsabgüsse mancher antiken Werke
hatte sehen können. „Diese edeln Gestalten waren
eine Art von heimlichem Gegengift, wenn das Schwache,
Falsche, Manierierte über mich zu gewinnen drohtef")
Aber der Unterschied zwischen Original und Abgufs
ist erstaunlich.
„Auf jeden, der ein zwar ungeübtes, aber für das
Schöne empfängliches Auge hat, wird ein stumpfer,
unvollkommener Gipsabgufs eines trefflichen alten Werkes
noch immer eine grofse Wirkung thun; denn in einer
solchen Nachbildung bleibt doch immer die Idee, die
Einfalt und Größe der Form, genug das Allgemeinste
noch übrig, soviel als man mit schlechten Augen allen-
falls in der Ferne gewahr werden könnte. Man kann
bemerken, dais oft eine lebhafte Neigung zur Kunst
durch solche ganz unvollkommenen Nachbildungen ent-
zündet wird. Allein die Wirkung ist dem Gegenstande
gleich: es wird mehr ein dunkles, unbestimmtes Gefühl
erregt, als dafs eigentlich der Gegenstand in seinem
Wert und in seiner Würde solchen angehenden Kunst-
freunden erscheinen sollte. Solche sind es, die ge-
wöhnlich den Grundsatz äußern, dafs eine allzugenaue
kritische Untersuchung den Genufs zerstöre; solche
sind es, die sich gegen eine Würdigung des Einzelnen
zu sträuben pflegen. Wenn ihnen aber nach und nach,
bei weiterer Erfahrung und Übung, ein scharfer Abgufs
statt eines stumpfen, ein Original statt eines Abgusses
vorgelegt wird, dann wächst mit der Einsicht auch das
L
1) Ital. Reise, Bericht vom
YV. Bode. Goethes Ästhetik.
April
1788.