Das
Geniefsen
Kunstwerke.
der
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aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande
ist, sich Rechenschaft zu geben."
-Wer die Künstler und die Kulturen der Menschheit
kennt, wird aus solchen Thatsachen seine Schlüsse
ziehen. Er wird solchen Kunstwerken aus dem Wege
gehen, die aus düstern, wilden, trostlosen Epochen der
Völker stammen, z. B. der mittelalterlichen Baukunst
und Dichtung, wenn er den Geist des Mittelalters nicht
liebt. Er wird ferner früh genug fragen, 0b ein Autor,
dem er sich anvertrauen soll, ein abgeklärter, heiterer,
wohlwollender Charakter gewesen oder etwa ein Mann
von ungezügelter Leidenschaft, von verbissenem Hafs,
von gedrückteln, mifstrauischem Wesen oder eine Frau
von jener unerquicklichen männlich-weiblichen Halb-
natur, wie wir sie unter Schriftstellerinnen oft fmdenÄ)
Goethe nahm beim Lesen ihrer Produkte die Stimmung
der Schriftstellerin an und befand sich herzlich schlecht
dabei, und uns Anderen wird es nicht besser gehen.
Aus dem Kunstfreunde wird zuweilen ein Kunst-
kenner, und diesem erschliefsen sich neue Arten des
Kunstgenusses. Wie aber kann man ein Kenner werden?
Viel Sehen, Lesen und Hören, viele Theater und Samm-
lungen Besuchen genügt noch nicht. Berufen ist erst
derjenige, „der sich selbst verleugnen, sich den Gegen-
ständen unterordnen kann, der nicht mit einem starren,
beschränkten Eigensinn sich und seine klägliche Ein-
seitigkeit in die höchsten Werke der Natur überzutragen
Schiller
an
Goethe,
Juli
1798.