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Goethes
Ästhetik.
vor sich hingesungenen Halbunsinn", und wo er von
überirdischen oder wunderlichen Dingen handelt, hat
er auch in vollem Bewufstsein das Klar-Verständige
vermieden.
Der Kanzler v. Müller luörte ihn oft behaupten, "ein
Kunstwerk, besonders ein Gedicht, das nichts zu er-
raten übrig lasse, sei kein wahres, vollwürdiges; seine
höchste Bestimmung bleibe immer, zum Nachdenken
aufzureizen, und nur dadurch könne es dem Beschauer
oder Leser recht lieb werden, wenn es ihn zwinge, nach
eigener Sinnesweise es sich auszulegen und gleichsam
ergänzend nachzuschaffenf")
Von Hafls rühmt Goethe dieselbe Art. Noch heute
singen Kamel- und Maultiertreiber die Lieder des
Hans, "keineswegs um des Sinnes halber, den er selbst
mutwillig zerstückelt, sondern der Stimmung wegen,
die er ewig rein und erfreulich verbreitetfü) Nament-
lich unter den Volksliedern finden wir in allen Ländern
"nonsensikalische", die auf das Gemüt eine wunderbare
Wirkung haben. Gerade im Unverständlichen scheinen
die Dämonen zu wirken. Zu Eckermann sagte Goethe
im höchsten Alter einmalzß) „In der Poesie ist durch-
aus etwas Dämonisches, und zwar yorzüglicli in der
unbewufsten, bei der aller Verstand und alle Vernunft
zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Be-
griffe wirkt. Desgleichen ist es in der Musik im höchsten
Grade, denn sie steht so hoch, dafs kein Verstand ihr
beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung
1) v. Müller, Goethes Persönlichkeit,
zum Divan. 3) 8. März 1831.
drei Reden.
2) Noten