Das
Genicfsen
der Kunstwerke.
233.
Aber auch als Leser erfuhr es Goethe, dass wir
manches Werk erst dann richtig aufnehmen, wenn unsere
eigene Entwickelung oder besondere Erlebnisse in uns ein
Bedürfnis nach seinem Inhalt haben entstehen lassen. Es
pafst auch auf Dichtungen und andere Kunstwerke, was.
er über die ,Dichtkunstt des Aristoteles an Schiller
schrieb, als beide über poetische Stoffe und Formen
diskutierten und dabei an den alten Theoretiker ihrer
Kunst gerietenÄ)
„Ich bin sehr erfreut, dafs wir gerade zur rechten
Stunde den Aristoteles aufgeschlagen haben. Ein Buch
wird doch immer erst gefunden, wenn es verstanden
wird. Ich erinnere mich sehr gut, dafs ich vor dreifsig
jahren die Übersetzung gelesen und doch auch von dem
Sinne des Werks gar nichts begriffen habe. Ich hoffe,
mich bald mit Ihnen darüber weiter zu unterhalten."
"Es ist sonderbar, was für Säfte gewisse Tiere aus
gewissen Pflanzen ziehen," schreibt Schiller an den
Freundf) und die Rede ist von seiner ehemaligen Ge-
liebten Charlotte v. Kalb, der er den ,Alarc0s' des
jüngeren Schlegel zu lesen gegeben hatte. Was die
Musik angeht, so bekennt auch Goethe, dafs sein Ge-
niefsen von seinem Subjekt vornehmlich abhänge. Man.
sprach über die Melodie ,Einsam bin ich nicht alleine"
in der ,Preci0sa(, und der Dichter meinte: "Solche
reichliche sentimentale Melodieen deprimieren mich;
ich bedarf kräftiger frischer Töne, mich zusammen-
zuraffen, zu sammeln. Napoleon, der ein Tyrann war,
1) Goethe an Schiller, 6. Mai 1797. z) 12. Mai x8o2
an Goethe.