Das
Geniefsen
der
Kunstwerke.
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wundeten Leiber der heiligen Märtyrer. Worauf der
Künstler Wert gelegt hat, müssen wir immer zuerst
bedenken. "Bei Betrachtung der Bilder mufs man zuerst
fragen, was wollte der Künstler mit diesem Bilde
sagen? Man inufs die Idee des Künstlers sich eigen
zu machen streben und nicht kleine, in Eile hingeworfene
Verzeichnisse aufsuchen und hierauf sein Urteil gründen." 1)
Viele Kunstwerke können wir erst ineinem höheren
Lebensalter, nach ernsten Lebenserfahrungen, nach einer
vielseitigen Ausbildung richtig aufnehmen. Diese Er-
fahrung gilt für Einzelne und für ganze Nationen. Nie-
mand wufste das besser als Goethe, denn er hatte ja
erlebt, dal's seine ]ugendiverke sofort zündeten, während
für seine späteren Arbeiten nur winzig kleine Teile der
Nation reif waren. Das Volk konnte sich nicht so
schnell verfeinern wie der durch sein Genie und be-
sondere Verhältnisse so sehr begünstigte einzelne Dichter.
Schon Herder urteilte: „Im ganzen ist der Silberbleistift
von Goethe für das heutige Publikum zu zart; die Striche,
die er zieht, sind zu fein, zu unkenntlich, ich möchte
fast sagen: zu Lttherisch. Das an so arge Vergröberungen
gewöhnte Auge kann sie deshalb zu keinem Charakter-
bilde zusammenfassen. Die jetzige litterarische Welt
will durchaus mit einem reich ergiebigen Farbenquast
bedient sein." Als Falk dieses Urteil Goethen wieder
sagtef) antwortete er: „Das hat der Alte gut und recht
aufgefafst." Und fünfzehn Jahre später sagte Goethe
Ü
1822 zu Grüner,
Bicdermann, III,
1) 22. August
25. Januar 1813,
Biedermann
56.
198,