230
Goethes
Ästhetik.
er die Bauten des italienischen Architekten Palladio
auf. „lch habe nichts Höheres, nichts Vollkommeneres
gesehnl" ruft er begeistert ausf) vier Tage später ge-
steht er zu: „An den ausgeführten Werken Palladios,
besonders an den Kirchen, habe ich manches Tadelns-
würdige neben dem Köstlichsten gefunden," aber er
fährt fort: "Wenn ich nun so bei mir überlegte, in-
wiefern ich recht oder unrecht hätte gegen einen solchen
aufserorrlentlichen Mann, so war es, als ob er dabei
stände und mir sagte: Das und das habe ich wider
Willen gemacht, aber doch gemacht, weil ich unter den
gegebenen Umständen nur auf diese Weise meiner
höchsten Idee am nächsten kommen konnte." Ebenso
sah Goethe damals auch die Werke der italienischen
Maler an. Er war durchaus nicht gegen alle frommen
Gemälde; die Madonna mit dem Kinde war ihm ein
Lieblingsgegenstand; der jünger, der auf den Wellen
schreiten kann, so lange er glaubt, und dergleichen
Stoffe, die zugleich Schönes, Erfreuliches, beständig
Gültiges darbieten, wollte er auch gern im christlichen
Gewande gemalt haben, aber einen förmlichen Abscheu
hatte er vor den nicht wenigen geistlichen Bildern, die
an den Rabenstein und den Schindanger erinnern und
uns nur Bosheit und schmähliches Leiden der Menschen
vorführen?) Da suchte denn sein Auge, um auch hier
noch Gewinn zu haben, nach den Nebenfiguren, die
der Künstler aus eigener Neigung hinzugefügt, oder er
bewunderte die Faltenmäntel, die der Maler mit gröfserer
Lust gemalt als die grämlichen Gesichter und die ver-
1) Ital, Reise, Venedig,
Bologna, I9. Oktober 1786.
Oktober
1786.
Ital,
Reise,