Das
Geniefsen
der Kunstwerke.
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schwaches Gewebe zerreifse oder den etwa schon vor-
handenen Rifs vergröfsere."
Goethe erinnert einmal an die Zeit, wo es in
Deutschland mehr als sonst Sitte war, Druckschriften
zu verteilen, die als "Manuskript für Freunde" bezeichnet
waren. „Wem dies befremdlich sein könnte, der be-
denke, dafs doch am Ende jedes Buch nur für Teil-
nehmer, für Freunde, für Liebhaber des Verfassers ge-
schrieben seif")
Goethe hat oft erklärt, dal's er nur für Freunde und
Geistesverwandte schreibe. „Die ,Wahlverwandtschaftent
schickte ich eigentlich als ein Zirkular an meine Freunde,
damit sie meiner wieder einmal an manchen Orten und
Enden gedachten. Wenn die Menge dieses Werkchen
nebenher auch liest, so kann es mir ganz recht sein.
Ich weifs, zu wem ich eigentlich gesprochen habe und
wo ich nicht mifsverstanden werdef")
Er selber war das Muster eines wohlwollenden
Kunstfreundes, obwohl er viel zu scharfsichtig war, um
die Mängel ganz zu übersehen. Wir wissen, wie sehr
er den Humoristen Sterne rühmte. "Sterne war der
schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn liest, fühlt
sich sogleich frei und schön." "Sagazität und Penetration
sind bei ihm grenzenlos," ruft er aus, und dann kommt
gleich die Einschränkung: „er ist in nichts ein Muster,"
aber darauf wieder das grofse Lob, er sei in allem ein
'Andeuter und Erwecker, der eben dadurch die Leser
zum Produzieren ihrer selbst reizeß) Ebenso nahm
1) Noten zum Divan. Künftiger Divan.
Reinhard, 31. Dezember I8o9, WVeim. Ausg.
3) Maximen und Reflexionen.