Das
Genießen
Kunstwerke.
der
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Nataliens Oheim, von dem wir in ,Wilhelm Meisters
Lehrjahrent lesen, 1) verstand sich besser auf das Geniefsen.
„Er konnte nicht ohne Musik, besonders nicht ohne
Gesang leben und hatte dabei die Eigenheit, dafs er
die Sänger nicht sehen wollte. Er pllegte zu sagen:
Das Theater verwöhnt uns gar zu sehr; die Musik dient
dort nur gleichsam dem Auge, sie begleitet die Be-
wegungen, nicht die Empfindungen. Bei Oratorien und
Konzerten stört uns immer die Gestalt des Musikus;
die wahre Musik ist allein fürs Ohr; eine schöne Stimme
ist das Allgemeinste, was sich denken läfst, und indem
das eingeschränkte Individuum, das sie hervorbringt,
sich vors Auge stellt, zerstört es den reinen Effekt
jener Allgemeinheit. Ich will jeden sehen, mit dem ich
reden soll, denn es ist ein einzelner Mensch, dessen
Gestalt und Charakter die Rede wert oder unwert macht;
hingegen wer mir singt, soll unsichtbar sein; seine Gestalt
soll mich nicht bestechen oder irre machen Ebenso
wollte er auch bei Instrumentalmusiken die Orchester
so viel als möglich versteckt haben, weil man durch
die mechanischen Bemühungen und durch die not-
dürftigen, immer seltsamen Gebärden der Instrumenten-
spieler so sehr zerstreut und verwirrt werde. Er pflegte
daher eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen
Augen anzuhören, um sein ganzes Dasein auf den
einzigen, reinen Genufs des Ohrs zu konzentrieren."
S0 lange Goethe dem Theater Vorstand, duldete er
auch nicht, dafs die Zuschauer durch ihre Gefühls-
ausbrüche die Wirkung der Bühnenwerke störten; mehr
als einmal hat er der Galerie Ruhe geboten. Als die
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Kap