Das
Genicfscn
der Kunstwerke.
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der die Leser seine Dichtungen schnell erledigen wollten.
Er sah z. B., wie gute Freunde das Gedicht ,Alexis
und Dora' zwar mit Entzücken aufnahmen, dann aber
glaubten, einen Flecken darin bemerkt zu haben, und
sich nun z. B. darüber skandalisierten, dafs dem Helden
ein Bündelchen auf das Schiff getragen werde, während
er doch sonst nicht wie ein armer Handwerksbursclm
erscheine. Sie übersahen dabei, dafs der Vers lautete:
„Sorglieh reichte die Mutter ein nachbcreitetes Bündel"
und dafs diese Zeile trefflich die mütterliche Art, die
mit der Fürsorge gar nicht aufhören kann, zeichnet, dafs
sie deshalb die Idylle nur noch verschönert. Da konnte
freilich Goethe gegen Schiller klagenf) „dafs es unsern
Hörern und Lesern eigentlich an der Aufmerksamkeit
fehlt . Was ihnen gleich einleuchtet, das nehmen sie
wohl willig auf; über alles, woran sie sich nach ihrer
Art stofsen, urteilen sie auch schnell ab, ohne vor-
noch rückwärts, ohne auf den Sinn und Zusammenhang
zu sehen, ohne zu bedenken, dafs sie eigentlich den
Dichter zu fragen haben, warum er dieses undjenes so
und nicht anders machte."
Wir müssen also den Kunstwerken Zeit gönnen, wenn
wir uns überhaupt mit ihnen beschäftigen wollen. „Denn
das müfste eine schlechte Kunst sein, die sich auf
einmal fassen liefse, deren Letztes von demjenigen gleich
geschaut werden könnte, der zuerst hereintrittßi) Als
der Maler Moritz Oppenheim aus Frankfurt seinem be-
1) 7. Juli 1796,
Wilhelm Meister.
vgl"
Schillers
Brief
Tage
vom
vorher.