214
Goethes
Ästhetik.
vor dem Bilde stehe? Er habe gewifs daheim eine
Schöne, die diesem Marmor recht ähnlich seheß)
Wie die Unwissenheit, so verdüstert auch die geistige
Ermattung eine wirkliche Aufnahme der Kunstwerke.
Müde und zerstreut glauben leider Viele den Tempel
der Kunst betreten zu dürfen.
"Wenn diesen Langeweile treibt,
Kommt jener satt vom übertischtenl Mahle,
Und was das Allerschlimmste bleibt,
Gar mancher kommt vom Lesen der Journale
Das „Lesen der Journale" mifsfiel also Goethe be-
sonders. Als er im Sommer 1797 seine Vaterstadt be-
suchte, üel es ihm, der an Weimar und Jena gewöhnt
war, dort als merkwürdig auß wie ungünstig das Leben
in einer grofsen Stadt für den Verkehr mit den Künsten
ist. Das Publikum dort „lebt in einem beständigen
Taumel von Erwerben und Verzehren, und das, was
wir Stimmung nennen, läfst sich weder hervorbringen,
noch mitteilen; alle Vergnügungen, selbst das Theater,
sollen nur zerstreuen, und die grofse Neigung des
lesenden Publikums zu journalen und Romanen ent-
steht eben daher, weil jene immer und diese meist Zer-
streuung in die Zerstreuung bringen. Ich glaube sogar
eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen, oder
wenigstens insofern sie poetisch sind, bemerkt zu haben,
die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vor-
kommt. Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlungßil)
Aberauch daheim in den ruhigeren Kleinstädten konnte
Goethe sich über die Oberflächlichkeit verdriefsen, mit
1) Ital. Reise, I3. Januar 1787. 2) Vorspiel zum Faust.
3) Brief an Schiller, 9. August 17973