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Goethes
Ästhetik.
Aber er hatte nicht mit der Morgenkälte und mit
Goethes baldigem Kommen gerechnet. Er hatte mit
seinem warmen Atem das kalte Glas angehaucht und
dann seinen Kufs in seinen eigenen Hauch gedrückt.
Der Hauch fror sogleich an, die Lippen waren mitten
(larin deutlich erkennbar. So sah nun Goethe das
Bild, und in stiller Heiterkeit suchte er den feurigen
Liebhaber des Gemäldes zu entdecken. Bei ungeheiztem
Zimmer mufste er dagewesen sein und sich allein gefühlt
haben; von frischer Jugend sprachen Lippen und Kufs.
Leicht war es nun festzustellen, dafs einer seiner jungen
Freunde der seltsame Kunstfreund gewesen warf)
Solche Wirkung, wie sie in diesem Falle Leonardo
da Vinci erzielt hat, ist nun freilich nicht Aufgabe des
Künstlers, und "wenn die Sperlinge nach gemalten
Kirschen fliegen, so spricht das noch nicht für die Vor-
treftlichkeit des Gemäldes, sondern es verrät, dafs diese
Liebhaber echte Sperlinge warenß?)
"Kein echter Künstler verlangt, sein Werk neben
ein Naturprodukt oder gar an dessen Stelle zu setzen; der
es thäte, wäre wie ein Mittelgeschöpf aus dem Reiche
der Kunst zu verstofsen und im Reiche der Natur nicht
aufzunehmen. Dem Dichter kann man wohl verzeihen,
wenn er, um eine interessante Situation in der Phantasie
zu erregen, seinen Bildhauer in eine selbsthervorgebrachte
Statue wirklich verliebt denkt; wenn er ihm Begierden
zu derselben andichtet, wenn er sie endlich in seinen.
Armen erweichen läfst. Das giebt wohl ein lüsternes
Geschichtchen, das sich ganz artig anhört; für den
1) Annalen 1803.
lichkeit der Kunstwerke
i)
1798.
Über
XNahrheit
und
Wahrschef