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Goethes
Ästhetik.
das Beste zu (sagen. So aber mufs er sich immer in
einem gewissen Niveau halten; er hat zu bedenken,
dal's seine Werke in die Hände einer gemischten Welt
kommen, und er hat daher Ursache, sich in Acht zu
nehmen, dafs er der Mehrzahl guter Menschen durch
eine zu grofse Offenheit kein Ärgernis gebe. Und
dann ist die Zeit ein wunderlich Ding. Sie ist ein
Tyrann, der seine Launen hat und der zu dem, was
einer sagt und thut, in jedem Jahrhundert ein ander
Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen
erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen,
und was Shakespeares kräftigen Mitmenschen durchaus
anmutete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr
ertragen, so dafs in der neuesten Zeit ein Family-Shake-
speare ein gefühltes Bedürfnis wird."
Dafs Goethe gegen das Nackte in der bildenden
Kunst nichts einzuwenden luatte, wenn es nicht eine
unsittliche Absicht offenbarte, braucht kaum noch hinzu-
gefügt zu werden. Dafs der Mensch für den bildenden
Künstler der eigentliche und herrlichste Gegenstand
sei, hat er oft gesagt, und dabei meinte er natürlich
nicht die Kleider. „Der Mensch ohne Hülle ist eigent-
lich der Mensch; der Bildhauer steht unmittelbar an
der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, wider-
wärtigen Thon zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen
suchten; solche göttlichen Gedanken mufs er hegen;
dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare
Absicht Gottes in der NaturPM)
Wilhelm
111,
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Meisters