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Ästhetik.
Goethes
Nun verlangt freilich der gemiifsigte Moralist nicht,
(lafs jedes Dichterwerk sittliche Lehren predige, er will
sich damit begnügen, dafs der Dichter das Sittengesetz
anerkenne und sich ihm unterordne. Goethe antwortet:
Anerkennen rnufsten die Künstler das Sittengesetz von
jeher, deutliche ethische Phänömene wird derjenige nicht
leugnen, der die ästhetischen heilig halt. "Thäten sie
aber das Zweite," d. h. ordneten sie sich den Moralisten
und ihren Gesetzen unter, „so wären sie verloren, und
es wäre besser, dafs man ihnen gleich einen Mühlstein
an den Hals hängte und sie ersäufte, als dafs man sie
nach und nach ins Nützlich-Platte absterben liefsef")
Namentlich verwahrte sich Goethe gegen jene Moral-
pedanten, die das Sittlich-Äferwerfliche gar nicht oder
doch nur unter deutlichem Ausdruck der moralischen
Entrüstung des Künstlers dargestellt haben wollten.
"Das Übel macht eine Geschichte und das Gute keine,"
antwortete er, als von Konfessionen die Rede warf)
und der Philisterkritik, dafs man in seinen ,Wahl-
verwandtschaftem keinen Kampf des Sittlichen mit der
Neigung sehe, entgegnete er, dafs dieser Kampf hinter
der Scene liege, wie man bei einiger Aufmerksamkeit
sich sagen müsse, und dafs sich das bei diesem Werke
so gehöre. Denn die Personen darin sind vornehme
Leute und betragen sich wie solche, sie behaupten bei
allem inneren Zwiespalt das äufsere Dekorumß)
Wenn man etwa einwarß dafs solche Darstellung
des Unrechten dem Leser schaden, ihn in unerwünschter
Weise aufklären könnte, so erwiderte erz4) "Es müfste
1) Brief an I. H. Meyer, 20. Juni UI- e) Zu Ricmer 1810.
s) Zu Riemcr, 6. und I0. Dezember 1809. 4) Eckermann,
17. März 1830.