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Gehalt
Tendenz.
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Wundergestalten der antiken Mythen. „Als Dichter und
Künstler bin ich Polytheist," erklärte derselbe Goethe,
der als Naturforscher Pantheist warf) und wir wissen,
dafs er im ,Faustf von Anfang bis Ende eine ganze
Heerschar der verschiedensten Fabelwesen walten liefs.
Er beklagte es, dafs die modernen Dichter nicht so be-
quem wie die antiken mit Göttern, Wahrsagern, Orakeln
u. dgl. hantieren können und so wenig Ersatz dafür
haben?) Er erklärt, dafs dem Poeten selbst der Aber-
glaube nicht schade, da er ihn oft verwerten könne.
ja, er verteidigt den Aberglauben überhaupt, und wenn
]ustus Möser betonte, dafs hinter abergläubischen Vor-
Stellungen oft recht brauchbare Lebensregeln steckten,
so hatte Goethe künstlerisches Wohlgefallen daranß)
„Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; beide er-
finden eingebildete Wiesen, und zwischen dem Wirklichen,
Handgreiflichen ahnen sie die seltsamsten Beziehungen;
Sympathie und Antipathie waltet hin und her." Freilich
verwendet die Kunst solche Phantasieen nur gelegentlich,
spielt nur damit, während der Aberglaube dauernde
Fesseln aus ihnen macht.
Bei dieser nahen Verwandtschaft zwischen künst-
lerischem Schaffen und religiösem Glauben wird es uns
nicht Wunder nehmen, wenn beide zur gleichen Zeit
gedeihen. Goethe sagte sogar einmal zu Riemerß) die
Menschen seien in Poesie und Kunst nur so lange
produktiv, als sie noch religiös seien; nachher würden
Sie blofs nachahmend und wiederholend, so wie wir es
dem Altertum gegenüber sind. Denn die poetischen
1) In einem Briefe an 1111517813. 2) Über epische und
dramatische Dichtung, 1797. 3) Goethe, Aufsatz Justus
Mösef 1822. 4) 26. März 1814, Bicdermann III, 124.