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Goethes
Ästhetik.
damit habe erreichen wollen; er bilde sich nicht ein,
irgend ein hübscher Mann könne dadurch von dem
Gelüst, nach eines Andern Weib zu blicken, gereinigt
werdenJ) Und Goethe fügte hinzu: „Es ist ein grenzen-
loses Verdienst unseres alten Kant um die Welt, und
ich darf auch sagen: um mich, dafs er in seiner ,Kritik
der Urteilskraft" Kunst und Natur nebeneinander stellt
und beiden das Recht zugesteht, aus grofsen Prinzipien
zwecklos zu handeln. So hatte mich Spinoza früher
schon in dem Hafs gegen die absurden Endursachen
geglaubiget. Natur und Kunst sind zu grofs, um auf
Zwecke auszugehen, und haben's auch nicht nötig, denn
Bezüge giebt's überall, und Bezüge sind das Leben."
Wir ahnen nun schon, wie Goethe über patriotische
religiöse, moralische und sonstige Tendenzdichtung ur-
teilen wird. Der Dichter ist als solcher kein deutscher
oder dänischer Patriot, kein liberaler oder konservativer
Politiker; sobald sein politischer Glaube ihn stark be-
herrscht, wird seine Poesie darunter leiden. „Der
Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland
lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte
und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und
Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein
besonderes Land gebunden ist, und das er ergreift und
bildet, wo er es findet. Er- ist darin dem Adler gleich,
der mit freiem Blick über Ländern schwebt, und dem
es gleichviel ist, ob der Hase, auf den er herabschiefst,
in Preufsen oder in Sachsen läuft.
„Und was heifst denn: sein Vaterland lieben, und
was heifst denn: patriotisch wirken? Wenn ein Dichter
Zcltcr,
An
Januar
1830.