Stoff.
I)er
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Niemand spricht zu allen Zeiten die gleichen Urteile
aus, und so wäre es nicht schwer, bei Goethe Wider
Sprüche zu entdecken. Goethe übertrieb einzelne
Wahrheiten unbewufst oder bewufst, weil er gerade
kräftig von ihnen ergriffen oder weil er beilissen war,
sich recht deutlich zu machen. Schon Eckermann macht
auf die so entstandenen Widersprüche aufinerksamf)
gerade auch in Bezug auf den Stoff der Kunstwerke:
"Bald legt er alles Gewicht auf den Stoff, welchen
die Welt giebt, bald alles auf das Innere des Dichters;
bald soll alles Heil im Gegenstande liegen, bald alles
in der Behandlung; bald soll es von einer vollendeten
Form kommen, bald, mit Vernachlässigung aller Form,
alles vom Geiste."
Eckermann hat ganz recht, wenn er verlangt, dafs
der Leser aus solchen einseitigen Bildern ganze Körper
zusammensetzen müsse, "das Ganze im Auge halten
und alles gehörig zurechtlegen und vereinigen".
Über die hohe Bedeutung des Stoffes haben wir
Goethes Urteil gelesen; er sagt uns aber auch, dafs die
Kunst gerade dann immer höher in ihre eigensten Re-
gionen steigt, wenn das Stoffartige, das bekanntlich die
Menge zuerst an das Kunstwerk lockt, ganz der Aufmerk-
Samkeit entschwindet. De1' Theaterdirektor, der das grofse
Publikum kennt, fordert vor allen Dingen, dafs vieles
vor den Augen abgesponnen werde: "Besonders aber
laist genug geschehn!" Der Dichter jedoch fühlt, „wie
schlecht ein solches Handwerk sei, wie wenig das dem
echten Künstler zieme."
Vorrede
Zll
seinen
Gesprächen.