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Goethes
ÄÄsthetik.
des Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele
des grofsen Dichters, sowie Charaktere des Shakespeare
von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll man
es machen. Ja, Shakespeare geht noch weiter und macht
seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht,
denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden."
Kehren wir zurück zu dem Glauben, dafs grofse
Ereignisse den Mitlebenden grofse Stoffe geben und
somit die Litteratur und alle Künste auf eine höhere Stufe
emporheben! Die Befreiungskriege bedeuteten doch
sicherlich für das deutsche Volk eine Offenbarung un-
geahnter Kraft, eine Blütezeit für hohe Gesinnungen
und grofse Thaten: aber was ging daraus hervor für
jene künstlerische Kultur, wie Goethe sie liebte?
Freilich an Dichtern, Malern, Bildhauern, Musikern u. s. w.
fehlte es nachher keineswegs, aber was Goethe an
ihnen am schmerzlichsten vermifste, war die
Männlichkeit! "Es lebt ein schwächeres Geschlecht,"
las er aus allen Werken der schönen Künste heraus?)
„Unsern jungen Malern," klagte Goethe einmalf)
„fehlt es an Gemüt und Geist; ihre Erhndungen sagen
nichts und wirken nichts; sie malen Schwerter, die nicht
hauen, und Pfeile, die nicht treffen, und es dringt sich
mir oft auf, als wäre aller Geist aus der Welt ver-
schwunden."
„Und doch," entgegnete Eckermann, „sollte man
glauben, dafs die grofsen kriegerischen Ereignisse der
letzten Jahre den Geist aufgeregt hätten."
"Mehr Wollen," sagte Goethe, "haben sie aufgeregt
1) Vgl. Eckcrmann,
Dezember 1826.
Februar
1831.
Eckcrmann,