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Goethes
Ästhetik.
zunehmen. Das Auge sieht eine Kuh und ein Kälbchen,
die Seele gewahrt die göttliche Liebe?) Noch schöner
wird eine junge Frau, die ihr Kind im Arme hält,
zu unsern Sinnen und unserer Seele sprechen. Hier haben
wir „die wahre Symbolik, wo das Besondere das All-
gemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten,
sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des
Unerforschlichenfd)
Die Madonna mit dem Iesusknaben ist also die glück-
lichste Aufgabe für ein Bild, während z. B. (las Thema
„Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen
nicht" uns viel weniger trifft, eben weil es nicht als
Symbol, sondern als ein zufälliges Ereignis, veranlafst
durch das Ungeschick der jünger, erscheintß) Un-
glücklich ist auch der Bildhauer daran, wenn er neben
Christus alle zwölf Apostel aufstellen soll, denn wie soll
er es anfangen, dafs jedervon ihnen etwas bedeutet?
Adam, Noah, Moses, David, Iesaias, Daniel sie
würden uns als Typen de1' Menschheit ansprechen, und
nach ihnen auch einige wenige der Apostel: Johannes,
Paulus, Petrus, jakobusß)
In aller Kunst sollte sich an die vereinzelte ver-
gängliche Erscheinung die Dauer durch symbolischen
Wert knüpfen. Gegen Schiller sprach Goethe einmal
über einen jungen Maler aus Schwaben, dem er auf-
gegeben hatte, den Admet zu zeigen, wie er I-lerkules
bewirtet, obwohl eine Leiche im Hause ist. Der junge
Mann zeichnete die verlangten Figuren ganz trefflich,
1) Vgl. den Aufsatz ,Myrons Kult von 1812 und ,Beispiclc
symbolischer Behandlungf in den Schriften über Kunst. Auch
Eckermann, I3. Dezember 1829. 2) Sprüche in Prosa.
3) Eckermann, I3. Dezember 1826-4) Eckcrmann, I6.März 1830,