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Goethes
Ästhetik.
"Herr Jesus, der die Welt durchwandcrt,
Ging einst an einem Markt vorbei;
Ein toter Hund lag auf dem Wege,
Geschleppt vor eines Hauses Thor;
Ein Haufe stand ums Aas umher,
Vk
1c
sich
Geier
um
Äser
sammeln.
Der eine sprachr ,Mir wird das Hirn
Von dem Gestank ganz ausgelöschtf
Der andre spracht ,Was braucht es viel!
Der Gräber Auswurf bringt nur [Inglückf
S0 sang ein jeder seine Weise,
Des toten Hundes Leib zu schmähcn.
Als nun an Jesus kam die Reih',
Sprach ohne Schmähül er guten Sinns,
Er sprach aus gütiger Natur:
,Die Zähne sind wie Perlen weifsä"
ja, wer solches Ziel erreicht, darf uns eine Strecke
durch Morast Führen. Und sehen wir hier nicht, wie
der Dichter und Jesus sich in gleicher Weise der Wirk-
lichkeit gegenüberstellen, wie Ästhetik und Ethik in
ihren Gesetzen verwandt sind?
Von Schiller schreibt Goethe einmal das schöne
Wort, ihm sei eine Christus-Tendenz eingeboren ge-
wesen?) „Er berührte nichts Gemeines, ohne es zu
veredeln. Seine innere Beschäftigung ging dahin." Ja, das
Dichten ist ein Veredelungsprozefs, kein Herbeischaffen
von Rohstoffen.
Brauchbar also wird in den Händen eines grofsen
Meisters schliefslich jeder Stoff, aber anzuraten sind
doch nur wenige. Jeder Künstler mufs diese wenigen
suchen und auswählen.
An
Zelter,
November
1830.