Volltext: Goethes Ästhetik

132 
Goethes 
Ästhetik. 
dafs er den poetischen Charakter der Schweiz wieder- 
gab, obwohl er sie nie gesehen hatte und sie nur aus 
Goethes Schilderungen kannte?) Die Regel ist aber 
doch nur, dafs im wahren Dichter ein aufnehmendes 
und nachfühlendes Organ den seelischen Erregungen in 
Andern ungewöhnlich weit entgegenkommt; er ist darin 
den Frauen ähnlich, die zuweilen als Seherinnen "mit 
dem Gefühl" in das Innere der Dinge dringen, wo der 
prosaische Mann an Äußerlichkeiten herumtastet. Goethe 
sagte, als wieder die Rede auf das Thema kam, etwas 
deutlicher, was er mit der angeborenen Weltkenntnis 
meine: 
„Die Region der Liebe, des Hasses, der. Hoffnung, 
der Verzweiflung, und wie die Zustände und Leiden- 
schaften der Seele heifsen, ist dem Dichter angeboren, 
und ihre Darstellung gelingt ihm. Es ist ihm aber nicht 
angeboren, wie man Gericht hält, oder wie man 
im Parlament oder bei einer Kaiserkrönung verfährt, 
und um nicht gegen die Wahrheit solcher Dinge zu 
verstofsen, mufs der Dichter sie aus Erfahrung oder 
Überlieferung sich aneignen. So konnte ich im ,Faust4 
den düstern Zustand des Lebensüberdrusses im Helden 
sowie die Liebesempfmdungen Gretchens recht gut durch 
Antizipation in meiner Macht haben; allein um z. B. 
Zll 
sagen: 
,Wic traurig steigt die unvollkommnc Scheibe 
Des späten Monds mit feuchter Glut herauf  
bedurfte es einiger Beobachtung der Natur." 
"Es ist aber," erwiderte Eckermann, „im 
,Faust' keine Zeile, die nicht von sorgfältiger 
ganzen 
Durch- 
Eckermann, 
Januar 
1327-
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.