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Goethes
Ästhetik.
dafs er den poetischen Charakter der Schweiz wieder-
gab, obwohl er sie nie gesehen hatte und sie nur aus
Goethes Schilderungen kannte?) Die Regel ist aber
doch nur, dafs im wahren Dichter ein aufnehmendes
und nachfühlendes Organ den seelischen Erregungen in
Andern ungewöhnlich weit entgegenkommt; er ist darin
den Frauen ähnlich, die zuweilen als Seherinnen "mit
dem Gefühl" in das Innere der Dinge dringen, wo der
prosaische Mann an Äußerlichkeiten herumtastet. Goethe
sagte, als wieder die Rede auf das Thema kam, etwas
deutlicher, was er mit der angeborenen Weltkenntnis
meine:
„Die Region der Liebe, des Hasses, der. Hoffnung,
der Verzweiflung, und wie die Zustände und Leiden-
schaften der Seele heifsen, ist dem Dichter angeboren,
und ihre Darstellung gelingt ihm. Es ist ihm aber nicht
angeboren, wie man Gericht hält, oder wie man
im Parlament oder bei einer Kaiserkrönung verfährt,
und um nicht gegen die Wahrheit solcher Dinge zu
verstofsen, mufs der Dichter sie aus Erfahrung oder
Überlieferung sich aneignen. So konnte ich im ,Faust4
den düstern Zustand des Lebensüberdrusses im Helden
sowie die Liebesempfmdungen Gretchens recht gut durch
Antizipation in meiner Macht haben; allein um z. B.
Zll
sagen:
,Wic traurig steigt die unvollkommnc Scheibe
Des späten Monds mit feuchter Glut herauf
bedurfte es einiger Beobachtung der Natur."
"Es ist aber," erwiderte Eckermann, „im
,Faust' keine Zeile, die nicht von sorgfältiger
ganzen
Durch-
Eckermann,
Januar
1327-