90
Goethes
Ästhetik.
.Er näherte sich im Oktober 1786 dem lange er-
sehnten Rom; jede gute Stunde hätte er gern der
,Iphigenie' gewidmet. Da ward er plötzlich auf-
geregt, etwas auszubilden, das gar nicht an der Zeit
war-Ä) Sein Auge Iiel auf einen Priester, der in seiner
Sedie ihm gegenüber safs; er fühlte sich von lauter
Katholiken umgeben; sein Ziel war die Hauptstadt der
katholischen Kirche. Er dachte an einige Abenteuer
der letzten Wochen, und nun stand ihm lebhaft vor
Augen, dafs doch vom ursprünglichen Christentum alle
Spur verloschen war. ja, wenn er es sich in seiner
Reinheit vergegenwärtigte, so wie wir es aus der Apostel-
geschichte kennen, so mufste es ihn schaudern, welch
unförmliches, ja barockes Heidentum auf jenen An-
fängen lastete. Und nun erschien plötzlich der ewige
jude wieder vor seiner Seele, der nach der Sage Zeuge
aller dieser wundersamen Entwickelungen gewesen ist,
und Christus erschien ihm, wie er auf die Erde zurück-
kehrt und in Gefahr gerät, zum zweitenmale gekreuzigt
zu werden. jene Legende „Venio iterum crucifigi"
sollte ihm jetzt Stoff eines grofsen Gedichtes werden.
Dafs es schliefslich Fragment blieb, dafs er seine
religiösen Überzeugungen und Vermutungen lieber in
den ,Faust' und andere Dichtungen hineingewoben,
hebt die Wahrheit nicht auf dafs Goethe sich auch von
religiösen Streitfragen durch dichterisches Gestalten
loslöste.
Dieses Loslösen verglich er im Scherze wohl mit
dem Sichhäuten der Schlange oder mit dem Ablegen
von Kleidungsstücken. Über den ,Divan' sagte er
m
w
Ital
Reise
Tcrni
Oktober
1786.