Der
Burgbruncl.
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zu halten. Da er nun nicht völlig die tiefe anatomische
Kenntniss, noch die verwaltende Grossartigkeit wie sein
mächtiger Rival besass, welche dieser sehr einseitig die
Kunst zu nennen pflegte, so können wir allerdings in ei-
ner gewissen Beziehung in des Vasari Ausspruch- ein-
stimmen, indem er sagt: „Wenn Rafael bei der Behand-
lungsweise wie bei den Sibyllen in S. Maria dclla Pace
geblieben wäre, und nicht gesucht hätte sie zu ändern und
gPandiosc-r zu halten, um zu zeigen, dass er das Nackte
Eben so gut wie Michel Angelo verstehe, so würde er nicht
einen Theil des hohen Ruhms eingebüsst haben, den er
sich erworben hatte; denn obgleich die nackten Figuren,
Welche er im Burgbrand malte, gut sind, so kann man sie
doch nicht in allen Theilcn vortrefflich nennen." S0 hart
auch dieses Urtheil lautet, da fragliche Figuren im Burg-
bärand immer noch als lilcisterwerke geltenmüssen, so liegt
doch das Wahre darin, dass Rafael, der die Fähigkeit
hatte, das Charakteristische und Eigenthümliche in den For-
men schärfer als irgend ein anderer Künstler seiner Zeit
zu erfassen und darzustellen, grössern Ruhm bei der Dar-
Stellung des Nackten erlangt haben würde, wäre er sei-
11cm eigenen Genius treuer geblieben, ohne den Principien
der Kunst des Michel Angelo solchen Einfluss bei sich zu
gestatten. Diese Ansicht erhält noch grössern Bestand,
wenn wir Rafaefs Studien zu dem Mann, welcher seinen
alten Vater trägt, und zu dem sich herablassenden Jüngling
in der Sammlung des Erzherzog Karl betrachten, da diese
von einer so charaktervollen Wahrheit und Schönheit sind,
von einem so lebendigen und feinen Gefühl der Zeichnung,
wie sich diese Eigenschaften in solchem Grade nur in den
besten antiken Bildwerken vorfinden. Hätte Rafael diese
seine Kunst bei der Ausführung in Fresco unverrückt im
Auge behalten, so würde er sich in seiner Eigenthümlich-
keit, die Natur in ihrer grössten Mannigfaltigkeit zu erfas-
Sßn, eben so unvergleichbar gezeigt haben, als Michel An-
3910 in seiner originellen Erhabenheit, oder wie er sagt,
will Seiner Kunst." Durch diese Auseinandersetzung
dürfte einem jeden dieser grossen Künstler sein Recht ge-
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