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Rafael.
und
Michel Angela
stark ausgesprochene, einfache, architektonische Linien be-
zeichnet sind, als auch durch das stets untergeordnete Vor-
treten und die reinen Formen der einzelnen Theile. Ganz
anders verfuhr Michel Angelo, der gewöhnt alle Schranken
des bis dahin Üblichen zu überschreiten, keine andere Ge-
setze als die seiner eigenen Ideen anerkannte, der sich die
g-rössten Willkiirliehkeiten erlaubte, vielleicht nur um un-
gewöhnlich zu erscheinen, der in seinem ungestümen Geist
die regelnden Iiarmonien verschmähte .und neben imposan-
ten Massen sich in kleinliche Sonderbarkeiten ohne Zweck
und Schönheit verliert. Dieses zeigen augenfällig sowohl
die Misverhältnisse in den Eintheilungen der Decke der
Sixtinischeil Capelle, als die Familiengruft der Medici in
S. Lorenzo zu Florenz, mit den kleinlichen Balustradeu, mit
den sonderbar gestalteten Sarkophagen, und mehr noch die
Porta Pia von Rom, wo, bei mächtigen Formen, wie sie
einem Stadtthor geziemen, die kleinlichsten, barocksten Ver-
zierungen angebracht sind. Ihn trifft daher mit Recht der
Vorwurf, dass er" der in seiner Zeit beginnenden Ent-
artung der Baukunst grossen Vorschub geleistet, statt mit
Strenge auf der Bahn fortzuschreiten, welche Bramante und
Baldassare Peruzzi bezeichnet und auf der auch Rafael ge-
wandelt, Um indessen nicht misverstanden zu werden,
müssen wir erinnern, dass demohngeachtet Michel Angel0's
grossartige Sinnesart den allgemeinen oder Hauptformen
seiner Architektur auch einen grossartigen Charakter zu
verleihen wusste.
Nachdem ich im Bisherigen Rafaefs Entwicklungsgang
und seine hohen Eigenschaften als Künstler zu beleuchten
versucht, scheint es angemessen, noch einige Betrachtungen
über den Charakter der Zeit, in der sich sein T alent ent-
wickelt und in der er wirkte, beizufügen, da Rafael, wie
so viele "andere seiner ausserordentlichen Zeitgenossen, un-
bestreitbar die volle Entwicklung seiner Begabungen grossen-
theils dem Zusammenwirken verschiedener äussern Ursachen
verdankt. Mehrere derselben habe ich schon angegeben,
die ich aber, um sie im allgemeinsten auszusprechen, nicht
besser als durch folgende Stelle aus der schon erwähnten Rede