Volltext: Rafael Von Urbino Und Sein Vater Giovanni Santi (Erster Theil)

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Rafaefs Eigenschaften. 
nugsam die Schönheit seiner Zeichnung des Nackten ge- 
rühmt und angegeben, wie er diesen Theil nicht nur mit 
grosser anatomischer Kenntniss und dem feinsten Gefühl 
des Lebens behandelt, sondern auch das Eigenthümliche 
der Geschlechter, des Alters und der Temperamente aufs 
bewundrungswürdigste aufgefasst hat. Besonders tritt letz- 
teres, verbunden mit dem Colorit, in seinen Bildnissen auf 
eine überraschende Weise hervor, so dass wir nicht nur 
die Ähnlichkeit der äussern Gestalt, sondern auch sozusa- 
gen den ganzen innern Menschen bei RafaePs Portraiteu 
vor Augen zu haben glauben. 
 Unerreicht geblieben ist gleichfalls unser Meister in der 
Behandlung der Bekleidung. Stets dem Gegenstande oder der 
Person angemessen, ohne Überfülle, dem Gang der Bewe- 
gung folgend, hat er den Faltenwurf doch voll, mannigfal- 
tig und schön in der Anordnung gehalten. Bei diesem 
schwierigen Theil der Kunst, welcher die höchste Erfin- 
dungsgabe und das feinste Gefühl für die Schönheit der 
Linien erfordert, hat Rafael abermals die unerschöpfliche Fülle 
seiner Phantasie bewährt und eine Überlegenheit bewiesen, 
welcher nie ein anderer Meister auch nur entfernt nahe ge- 
kommen ist. In der Färbung hat Rafael durchgehend ei- 
nen leuchtenden Ton, so dass bei der grösstexl Tiefe sei- 
ner Farben die Schatten stets glanzvoll sind. Dieses beob- 
achtete er eben sowohl in der Carnation, als im Colorit 
der Gewänder und anderer Theile. Die Lichter, die er beim 
Untermalen hell aufsetzte, pflegte er leicht zu lasiren, wo- 
durch sie etwas Mildes, zugleich aber etwas Glühendes er- 
hielten. Die allgemeine Farbenangabe seiner Gemälde zeigt 
im Grossen wie im Kleinen ein richtiges Gefühl für Tota- 
lität und  die Gegensätze  so dass seine Färbung im- 
1) Unter Totalität verstehen wir die in gleichem Mass vorhan- 
denen drei Hauptfarben: Roth, Gelb und Blau, auch dann wenn 
keine derselben rein angewendet sein sollte, sondern nur in gemisch- 
ten und gebrochenen Tönen. Der Gegensatz einer Farbe ist dieje- 
nige, welche von jener ganz verschieden ist, daher vom Auge ge- 
fordert wird. S0 hat das Rothe das Grüne, das Gelbe das Vio- 
lette, das Blaue das Orange zum Gegensatz. Immer zwei solcher
	        
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