Rafael 's
Eigenschaften.
349
nicht in allen die höchste Idee einer heiligen Jungfrau er-
kennen, sondern berühren sie zuweilen mehr menschliche
Saiten, so sprechen sie doch alle ein inneres Leben aus
und erscheinen im höchsten Grade anmuthreich. Diese fri-
sche Lebensfiille , diese alles durchdringenden, wahren
Grundideen in seinen Darstellungen sind es hauptsächlich,
welche denselben die Macht der Wirkung geben, die in der
Seele des Beschauers keinen Zweifel gestattet, ihn ganz in
den umschriebenen Kreis bannt und volle Genüge finden
lässt. Noch zwei andere Eigenschaften in Rafaefs Dar-
stellungsweise erhöhen die Befriedigung, die seine Werke ge-
währen; für's Erste die ungezwungene Symmetrie seiner
Compositionen, für's Andere die grossartige Vertheilung der
Licht- und Schattenmassen. Indem erstere das wohlthuende
Gefühl des Gleichgewichts erregt, erfreut letztere durch
Ruhe und Ordnung. S0 verstand auch Rafael in einem
Masse wie kein anderer sowohl dem Ganzen, als den ein-
zelnen Gruppen seiner Compositionen eine geschlossene und
gerundete Coniiguration zu geben, welche gleich einer schö-e
nen Gestalt, harmonisch auf den Sinn wirkt und der Seele
ein bezauberndes Bild einprägt. Diese schöne Gestaltung
und die grossartige Beleuchtung sind es dann vorzüglich,
wodurch die Gemälde Rafaefs sich mehr als die aller an-
dern grossen Meister für den Kupferstich eignen.
Wir haben schon oft Gelegenheit gehabt Rafael als
den Künstler zu bezeichnen, welcher am tiefsten und reich-
sten die Charaktere dargestellt und dem Ausdruck seiner
Köpfe, den Bewegungen seiner Gestalten das grösste und
wahrste Leben verliehen. So haben wir auch schon ge-
charakteristische Mannigfaltigkeit der Natur, durch welche allein er
einem grössern WVerk das Vollgewicht lebendigen Inhalts ertheilen
kann. S0 dachte unter den Stiftern der neuen Kunst. der herrliche
Leonardo, so der Meister hoher Schönheit Rafael, der sich nicht
scheute, lieber auch das geringere Mass derselben darzustellen, als
eintönig, unlebendig und unwirklich zu erscheinen, verstand- er
gleich nicht nur jene hervorzubringen, sondern sogar ihre Gleich-
mässigkeit durch die. Verschiedenheit des Ausdrucks wieder Zu
brechen."